Otto Wilhelmy

Tagebuch zum Essay über die Gottebenbildlichkeit des Menschen im Verständnis Jesu (gekürzte Version des Tagebuchs)

vom 15.10.95 - 5.11.96

 
 

15 - 10 - 95 

Ich war in der Kirche. XY  predigte über den Dekalog. Mein Gedächtnis verlässt mich. Aber ich bin sicher, dass ich Eindrückliches behalten hätte. Danach ein Gottesdienst aus Sachsen. Auch er behandelte den Dekalog. Auch er versuchte, in den Gott vom Sinai den Gott von Golgatha hinein zu deuten. Ob er gar nicht mehr ahnt, dass er dabei mogelt? Aber habe ich etwas anderes getan, als ich predigte?
Oh, wie habe ich die mit Fremdwörtern gespickten wissenschaftlichen Arbeiten bewundert, weil ich sie meist nicht verstand und mir das anlastete.
Wie habe ich einst Hermann Diem bewundert bei der Auslegung jener Jakobus-Stelle: „Achtet es für eitel Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallet...“ In der Anfechtung frage der Teufel die Menschen: „Wo ist nun dein Gott?“ und Gott fragte den Menschen: „Wo ist nun Dein Glaube?“ Darauf wäre ich nie gekommen. Damals habe ich diesen Gedanken aber mit Freude aufgegriffen und als die Lösung des Problems angesehen. Heute weiß ich, warum mein Verstand blockierte.
Ich erkenne immer mehr, wie sehr das Christentum zu einem gnadenlosen Diktat geworden ist. Nicht, dass es offensichtlich lieblos und unbarmherzig wäre. Aber gerade diese Mischung aus Herrschaft und Liebe ist das Erschütternde; denn wie eine Lüge, der die Lüge auf die Stirn geschrieben steht, von niemandem geglaubt wird und erst dann gefährlich wird, wenn sie im Mäntelchen einer Wahrheit daherkommt, so auch hier: Herrschaft, die im Mäntelchen der Liebe daherkommt. Diese Mischung über Jahrtausende geglaubt, hat zwar Dome, Kathedralen und Moscheen, hat Kunstwerke höchster Schönheit zuwege gebracht, Huldigungen an eine Gottheit und dafür Menschen geopfert.
 

2 - 11 - 95

Es wird mir immer klarer, dass auch ich, trotz Zugehörigkeit zur bekennenden Kirche, im Grunde auch einer Diktatur gedient habe und so in mir eine Diktatur gegen eine andere stritten, als ich mich der Weltanschauung der Nazis versagte. Und das von Herzen! Ich frage mich, was ich aus meiner jetzigen Sicht der Dinge heute unter den damaligen Umständen wohl tun würde? Nichts anderes als damals; nur nicht mehr unter Berufung auf „meinen Herrn“, sondern im Namen der Menschenwürde, der Freiheit und der Demokratie und damit im Grunde auf die Weisheit der Liebe bauend. Ich war damals nicht bereit, für diesen „meinen Herrn“ zu sterben und wäre es wohl auch heute nicht für die Weisheit der Liebe. Um so mehr frage ich mich, was ist es, dass die Weltanschauungen immer noch ihre Märtyrer finden?
 

4 - 11 - 95

Der frei gewordene Raum vor dem Balkon beherbergt meine Bibliothek, von der ich mich schon fast getrennt hätte, in dem ich die theologischen Bücher bündelweise verschnürt auf dem Dachboden und im Schuppen gestapelt hatte. Eigentlich ist es eine Katastrophe, dass mir alle die vielen Bücher, die zuerst meiner Eltern sauer verdientes Geld gekostet haben und danach meines, nun so gänzlich wertlos geworden sind. Da steht das Theologische Wörterbuch zum N.T. Ein gigantisches Werk. Wie wenig habe ich es gebraucht! Ob heutzutage noch jeder Theologe ein solches Werk hat? Die erste Lieferung erschien 1934, als ich in Königsberg mein 2.Semester begann. Die letzte Lieferung kam dann gegen Ende meiner Tätigkeit als Pfarrer. Und nun? Soll ich sagen „Ende gut, alles gut !“ Auch , wenn ich jetzt weiß, dass ich einer Theokratie gedient habe, die gut getarnt hinter Worten wie „Gnade“, „Barmherzigkeit“ und „Frieden“ ihre Herrschaft ausübte? Neulich fand wieder einmal ein „Großer Zapfenstreich" vor dem Bundeskanzleramt statt. Welch ein Hohn auf die Liebe und welche Tarnung des Martialischen. Nein, ich kann nicht mehr zurück. Mag es anmaßend sein, aber auch ich habe den „Schatz im Acker“ entdeckt und weiß nun die Stelle, wo er im Acker liegt. Diese, meine Überlegenheit lässt mich nicht traurig sein darüber, nicht nur eine ganze große Bibliothek, sonder auch ein Lebenswerk verloren zu haben. Der Gewinn macht den Verlust vergessen.
Der Mord an Rabin beschäftigt mich sehr, denn er ist eine Parallele zur Kreuzigung Jesu. Die Orthodoxie ist mörderisch. Wer hätte gedacht, dass hinter den Ideologien, die in diesem Jahrhundert Angst und Schrecken über diese Erde gebracht haben, nun letztendlich die wahre, nämlich religiöse Fratze aller Totalitarismen zum Vorschein kommt. Mit der Inthronisation JHWHs zum Weltenherrscher begann die Theologie und zugleich die Mythologie. Die Warnung, von JHWH keine persönlichen Vorstellungen zu dulden, wurde in den Wind geschlagen angesichts der offensichtlichen Vorteile, die eine Personifizierung mit sich brachte. Man kann sich die Begeisterung für diesen Vorgang nicht groß genug vorstellen. Niemand darf sich zum Richter über die machen, die dieser Faszination verfielen. Wir Christen sind der gleichen Versuchung verfallen, unsere Väter im Glauben haben diesen Jesus doch auch zum Weltenherrscher gemacht.
 Heute morgen hörte ich einen baptistischen Gottesdienst aus Bremen, Text: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Auch hier die gleiche Universitätstheologie wie auf unseren Kanzeln. Psychologisierend, aktualisierend. Aber was hätte ich daraus gemacht, wäre ich spannender gewesen? Ich will´s versuchen: Das uns bedingungslos geschenkte Leben wird uns heute auf der Stelle, aufs Neue offeriert und das, nachdem wir die bösen Erfahrungen gemacht haben, die uns die letzten drei oder vier Jahrtausende Menschheitsgeschichte im Zeichen der Verachtung von Mensch und Schöpfung eingebrockt haben. Zu einem Neuanfang in der Wertschätzung von Mensch und Schöpfung ist es nie zu spät.
 

(Ab hier ist die Datierung bis zum 3.7.96 verlorengegangen)

Wie soll das zugehen? Von Kind auf programmiert im Glauben an einen Herrgott, einem Gipfel menschlicher Vorstellungskraft, lässt sich kaum mehr herunterkommen, denn er (dieser Herrgott) lebt ja nicht, weil er lebt, sondern weil seine Anhänger glauben, dass er lebt und damit das Rätsel unseres Daseins gelöst sei. Was ist doch schon alles geschehen, das diesem Glauben Hohn sprach nach Art Jesu Ruf am Kreuz und der dann doch nicht erlahmte. Im Grunde sind A.T. und N.T. dafür Zeugnis, dass die Menschen ihren Gott auf den Händen ihres Glaubens getragen haben, ohne die geringste faktische Gegenleistung dieses Gottes.
Aber sag ihnen das und sie werden Amok laufen! Oder heute schon nicht mehr?
Doch, auch heute noch wäre mit deutlichen Entzugserscheinungen zu rechnen. Aber warum bei mir nicht? Ich bin doch Pfarrer und war im höchsten Maße dieser Ideologie verpflichtet. Was ist da geschehen? Ob ein Gott als Schöpfer der Welt existiert, bleibt eine Frage. Hingegen die Welt - und ich in ihr - erlebe ich als Wirklichkeit. Das Geschenk ist also Wirklichkeit, auch wenn der Schenkende vor der Hand nur mein Elternpaar ist.
Schwieriger ist es, den Wert dieses Geschenkes zu bestimmen; denn er hat im Bereich biblisch entwickelter Kultur ständig an Wert verloren. In der Frühzeit als Liebesgeschenk verstanden, verliert es schon früh diesen Glanz des Paradiesischen und dann erst recht unter dem Einfluss der Philosophie Platons im N.T.
Genügt es, wenn wir heute, bei den „Treibern der Schweine“ angelangt, den Rückweg ins Paradiesische suchen? Wer will aber dies Umdenken so in die Wege leiten, dass es zur Herzenssache aller Beteiligten wird und nicht wieder als „verordnet“ bei den Menschen ankommt.?
 
Ich frage mich?- Die Art und Weise in der zur Zeit die Christologie mehr und mehr aus den Predigten verschwindet, ohne dass die Gemeinden es wahrnehmen, beweist, dass auch der evangelische Gottesdienst weithin ähnlich bewertet wird, wie auf katholischer Seite der Gang zur Messe. Der Normalbesucher kann hinterher meist nicht sagen, was er da gehört hat, es sei denn es ist anschaulich gewesen, sei es in Form eines Gleichnisses, sei es als Erzählung.
 
Die Reformation verdankt ihren Erfolg im Grunde der kirchlichen und politischen Situation ihrer Zeit. Der Ruf nach Freiheit vom kirchlichen Joch begeisterte die Massen und einen Teil der Adeligen. Sie vollzog sich dann auch vorwiegend territorial nach dem Grundsatz: „cuius regio, eius religio“ und in den Köpfen der Pfarrer. Ihr stärkster Impuls für die Zukunft kam aus der Übersetzung der Bibel ins Deutsche mit all den sich daraus ergebenden Folgen.
Die Aufklärung auf allen Gebieten des menschlichen Lebens hat uns heute wieder an einen Punkt gebracht, an dem aufs neue an den Fesseln der Ideologien gerüttelt wird. Was haben wir einzubringen an Gewichtigem, ähnlich dem der Bibel in der Reformation? Die jahwistisch-jesuanische Philosophie von der Erwählung des Menschen?
 
Wenn ich bedenke, welche jeweiligen Anliegen über die evangelischen Kanzeln ihren Weg in die Bevölkerung gefunden haben, dann müsste doch auch diese Neueinschätzung des Menschen und seines Lebensraumes auf eben diesem Wege der Gemeinde nahe zu bringen sein. Als der Kunstdünger mit seiner vielversprechenden Wirkung bekannt wurde, da waren es auch Pfarrer die ihn in ihren Predigten propagierten. Was war mit den Kriegspredigten, in denen „der heilige Kreuzzug der Germanen“ schon im 1.Weltkrieg, in Leverkusen jedenfalls, den Leuten von der Kanzel eingetrichtert wurde?
 
Wie stark ist die Einflussnahme der kirchlichen Predigt auf ihre Zuhörer? Zur Zeit ist sie gering, denn ihr Tenor ist eine offene oder versteckte Forderung von Verhaltensweisen, von denen meist am Ende bei den Zuhörern nichts mehr haftet. Nach dem Kriege haben wir jungen Theologen in Leverkusen einmal den Versuch gemacht, Journalisten über unsere Predigten in der Montagszeitung berichten zu lassen. Unsere Predigten waren so wenig anschaulich, dass ein Journalist neben und trotz seiner Notizen keine klare Vorstellung vom Ganzen mit nach Hause nahm, sodass das von ihm Berichtete uns ganz und gar nicht gefallen konnte und wir den Versuch abbrachen. Aber, was tun wir eigentlich, wenn wir predigen? Was tat ich. als ich predigte? Ich verstand mich bei allen Predigtvorbereitungen zunächst einmal als Interpret eines biblischen Textes, in dem Gott zur Sprache kommen wollte und zwar richtend und aufrichtend; richtend den grundsätzlich Gottes Zorn verdienenden Menschen und aufrichtend mit dem Opfer Christi als der gnädigen Versöhnung Gottes mit dem Sünder. Jetzt weiß ich, dass auch ich auf diese Weise der Huldigung dieser behaupteten Gnade Gottes mit Haut und Haaren verfallen war. Diese Haltung beherrscht nicht nur unser religiöses Leben, sonder auch unser tägliches Leben. Schon die Anrede „Herr “ - also an einen Mann - zeigt wie dieser Herrschaftsanspruch sich von oben nach unten durchgesetzt hat. Jedes „Danke schön“ eines Kindes, als Antwort auf ein Geschenk, ist doch weiter nichts als eine ehrerbietige Empfangsbescheinigung. Das Ziel eines Geschenkes ist aber, Freude zu machen, das Herz des Beschenkten zu gewinnen, „das kann lange dauern“ bis sich die Freude zu Wort meldet, es kann sogar gänzlich ausbleiben. Herrschaft meint, nicht so lange warten zu können und verlangt darum das „Danke schön“. Derartiges ist uns schon in Fleisch und Blut übergegangen.
 
Ich habe eben, an diesem Volkstrauertag eine Predigt gehört über den bekannten Jeremia Text „Kranich und Turteltaube kennen ihre Zeit, wann sie wiederkommen sollen. Aber mein Volk vernimmt’s nicht...“ Jeremia lamentiert wie alle seine Kollegen und so denn auch der Pfarrer in seiner Predigt. „Lamentieren“, was heißt das? Nach meinem Verständnis: Lärm schlagen ohne eigentlichen Grund. Im Grunde fordert Jeremia seinen Gott auf, endlich sein Volk zur Vernunft zu bringen. Was meint er damit? Wenn ich es mir verständlich zu machen versuche, dann möchte er, dass sein Volk in festem Gottvertrauen handele, so wie der Mörder von Rabin gehandelt hat, blindlings gehorchend.
 
Ich beschäftige mich natürlich, wenn nicht gerade etwas anderes meine ganze Aufmerksamkeit verlangt, mit meinem Problem. So frage ich mich heute morgen: Soll man die Menschen mit dem Wissen um die Wahrheit belästigen, wenn es ihren Glauben gefährdet? Aber in meinem Falle geschieht doch Aufklärung in einer Zeit, in der die Wirklichkeit den Glauben längst ausgehöhlt hat und offensichtlich die Kirche sich rüttelt und schüttelt, um die alte Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken: Seht doch wie gut ich bin! Dabei liegt ihr Schaden in der Botschaft, die sie unangefochten von den Stimmen ihrer Philosophen, stur beibehalten will. Sie nennt diese Sturheit „Glauben“ und behauptet im Tone der Begeisterung, eben dieses Festhalten sei ja gerade der Beweis für das Wirken des Geistes Gottes. Dem steht unsereiner machtlos gegenüber. Rückblickend müsste die Kirche doch endlich begreifen, dass ihr Gott nicht von seinen großen Taten lebt und gelebt hat, sondern von dem fanatischen Willen seiner Anhänger, die ihn - unter Umständen mit Gewalt - auf den Thron zwingen, um seiner habhaft zu bleiben. Dabei sehen sie den „Splitter im Auge“ der Nichtchristen, aber den „Balken“ im eigenen Auge sehen sie nicht.
 
Es ist mir bewusst geworden, dass die Inthronisation zum HERRN zugleich eine Apotheose war, sodass erst damit die Theologie begann.
 
Es ist der 3. Sonntag im Advent. Der Predigttext: Jes.40, 1 ff: „Tröste, tröste mein Volk spricht euer Gott!“ Wie oft habe ich darüber gepredigt!? Das ist ohne Zweifel zum Herzen dringend und darum so faszinierend. Aber ich kann nicht mehr mit einstimmen, weil ich jetzt weiß, dass es sich dabei schon bei Jesaia im Grunde um Jesaias Wunschdenken handelt - nicht bewusst - aber ausgelöst von dem Wunsche, seiner Gottheit, dem Volke zuliebe, tröstliche, warmherzige, erbarmende Äußerungen in den Mund zu legen. „Mut machen“ hieß es in der eben gehörten Predigt. Ach, wie selbsterniedrigend, minderwertig führen wir uns vor diesem vermeintlich auf einem Thron sitzenden Herrscher auf, dass wir ihm solche Reden in den Mund legen zu müssen meinen. Wir Menschen haben ihn als Sündenbock (Adam und Eva: „Du bist schuld!“)auf den Thron gesetzt und nun müssen wir ihn auch, je nach Bedarf, von diesem Thron her reden machen. Einem Sündenbock huldigen heißt, die Eigenverantwortung loswerden. Ich denke bei dem „kyrie eleison“ und den Bitten um den Heiligen Geist im Gottesdienst an die Baalspriester auf dem Karmel, wie sie sich vergeblich bemühen, qualvoll um den Altar herum hüpfend und hinkend, ihren Gott in Aktion zu setzen.
 
Wie unsereiner sich mühsam an die Wahrheit heranrobben muss, wird mir deutlich, wenn ich lese, dass ich den „Sündenbock“, also den, dem die beiden ersten Menschen der Schöpfungsgeschichte vorwurfsvoll die Schuld an ihrem Versagen unter die Nase reiben, schließlich zum allmächtigen Weltenherrscher avanciert sehe. Dreitausend Jahre huldigen wir Menschen diesem Gott, ihn faktisch an seinem Versagen festnagelnd. Die Bitte um den Heiligen Geist ist doch eindeutig die Forderung, das bei der Schöpfung Versäumte schleunigst nach zu holen. Die frühen Christen meinten, wer weiß welche Offenbarungen bei den Propheten entdeckt zu haben. In Wahrheit sind beide, Propheten und Christen, nie über Adam und Evas Schuldzuweisung hinausgekommen..
 
Natürlich habe ich wieder eine Predigt gehört und bin, wie letztlich immer, schmerzlich dabei betroffen. Nun bin ich der Sache auf den Grund gegangen und weiß, wie alles zustande kam und zusammenhängt. Im Weihnachtsbrief habe ich vom „Hans Guck in die Luft“ gesprochen. Das Bild gefällt mir immer mehr. Man kann in der Predigt die Stellen markieren, an denen die Pfarrer abheben, ähnlich dem Schneider von Ulm. Dann fliegen sie und nehmen ihre Gemeinde mit.
 
Meine Einsichten vertiefen sich, je mehr ich mich damit beschäftige. Jetzt ist mir klar geworden: wie sich mit der Inthronisation zum Weltenherrscher auch das willige Zugeständnis der Menschen an den Unbekannten - der ihnen Land und Leben gegeben hatte, er sei für sie der einzige, der als Gott ernsthaft in Frage käme - verwandelte in den Totalitätsanspruch des Monotheismus. Das von den Menschen dem Unbekannten freiwillig Zugestandene, kehrte sich um in eine diktatorische Forderung von Seiten dieses Gottes. Ich frage mich, ob dies vielleicht die tiefste Ursache für den Antisemitismus ist? Die diesem Gott von Menschen auferlegte Arroganz führte zur Arroganz des Fundamentalismus jeglicher Prägung.
 
Nun habe ich doch noch einmal versucht, mich überzeugend darzustellen. Ursprünglich als Brief an Frau Pollmann gedacht, wurde daraus ein „Offener Brief an meine Kirche“. Am Ende heißt es jetzt: „Herrgott oder Vatergott? Die drei Religionen alttestamentlichen Ursprungs am Scheideweg zwischen Fundamentalismus und Humanismus“.
 
Im heutigen „Weg“ wird über Prof. Lüdemann(Göttingen) berichtet, dass er in einem „Spiegel“ - Interview es für „schizophren und scheinheilig“ halte, dass Pfarrer in der Ordination auf Glaubensbekenntnisse verpflichtet würden, die sie als wissenschaftlich ausgebildete Theologen nicht glauben könnten. Seine Landeskirche zeigt nun die Zähne und hat ihn aus der Prüfungskommission ausgeschlossen. Arme Kirche! Dein Glaube schmilzt nun dahin wie Butter in der Sonne. Der Präses meiner rheinischen Kirche, Peter Beyer, hat auch seine Meinung dazu geäußert. Er meint, Lüdemann brauche seine Kirche; denn „Theologie ist mehr als Textkritik und Wissenschaft. Sie muss Lebenspraxis reflektieren.“
 
Ich selber hörte den Gottesdienst des Deutschlandfunks. Gedanklich brillant. Abraham, das Vorbild des Glaubens, ein Mensch wie wir, auf der Straße des „Prinzips Hoffnung“. Warum nicht: des Wunschdenkens? „Hoffnung“ ist auch so ein „Fremdwort“ wie „Liebe“. Feuerbach hat den Sachverhalt richtig erkannt. Ich wundere mich, dass man ihn hat am Leben gelassen.
Oder ist es heute schon wieder gefährlicher als damals, Wahrheit zu entdecken und zu sagen? Jetzt weiß ich, warum die Konfirmierten so zahlreich der Kirche den Rücken gekehrt haben. Jetzt weiß ich, warum so viele Gemeindeglieder nur noch die Taufe, die Konfirmation, die Trauung und die Beerdigung für ihre Kirchensteuern von der Kirche einfordern. Die natürliche Abneigung des Menschen, sich programmieren zu lassen, macht sich da bemerkbar. Eigentlich ein Lichtblick. Warum dann aber „ ja“ zu den kirchlichen Handlungen? Es ist doch nicht nur der träge Gehorsam der Steuerzahler. Es macht doch offenbar auch Spaß, selbst die Beerdigung. Liegt es daran, dass es sich dabei um echte Akzente im Leben der Menschen handelt, deren weltanschauliche Übermalung weniger wichtig ist? Ach - was habe ich mich abgequält 100en von Kindern „das Christliche“ begreiflich zu machen. Dabei sagt es ganz offen, dass es gar nicht begriffen werden soll, sonder nichts anderes verlangt als vertrauendes Einstimmen. Auswendig lernen! Auswendig lernen! Das hätte genügt. Statt dessen habe ich mich abgequält, das Evangelium als höchste Weisheit verständlich zu machen!
 
Ich habe das Manuskript noch einmal überarbeitet und alles Fettgedruckte beseitigt. Gottfried Keller hat mich darauf gebracht. In seinem „Grünen Heinrich“ moniert er diese Art und Weise, die Aufmerksamkeit des Lesers zu erzwingen oder zu locken. Wer wüsste besser als ich, was da hinter steckt? Wie tief sind wir doch diesem "Macht zu gewinnen über andere Menschen" verhaftet!   Dabei habe ich erst gestern aus der Erkenntnis Mut geschöpft, dass unsere Jugend ihre natürliche Abneigung gegen die Programmierung des Menschen heute mehr denn je behalten hat. Ihr Fernbleiben von der Kirche nach der Konfirmation spricht Bände. Und ihr Verhältnis zur Schule leidet auch heute noch darunter, dass diese von ihrem Ursprung her Religionsschule war. Ganz zu schweigen von der Erziehung der Kinder in den Elternhäusern. Auch da wird im Grunde programmiert. Für das Nachdenken darüber, wie man dem Kinde einen Vorgang am besten verständlich und einverständlich machen könnte und für die dazu erforderliche Geduld, ist keine Zeit. Gehorchen lernen ist einfacher.
 
Es war Weltanschauung. Von Elternhaus, Schule und Gesellschaft regelrecht eingelernt und mit dem Siegel des einzig Wahren versiegelt und jedem Zugriff entzogen. Was ist das in uns Menschen, dass wir neben dem Wunsch nach Freiheit offenbar auch dem Gegängelt-Werden gegenüber nicht abgeneigt sind? Ist es nur die Bequemlichkeit, um nicht zu sagen die Faulheit derer, die anderer Leute Geistes-Arbeit sich zu Eigen machen? Das kann es doch nicht sein, handelt es sich doch dabei um einen ganz natürlichen Vorgang der Wissensübermittelung. Dann kann diese Verbindung von natürlicher Liebe zur Freiheit und der Sucht sich ein- oder unterzuordnen sich nur auf ein Weltbild beziehen, das Allgemeingut sein muss, soll es unter Menschen zur Verständigung kommen. Beides gehört also zu unserem Leben: Der Wunsch, nicht gefesselt zu werden und das Bedürfnis, sich einzuordnen. in die Gesellschaft, sei es in die Familie, sei es in eine Gruppe Gleichgesinnter. Jedenfalls spielt dabei das Schutzbedürfnis des Menschen eine Rolle. Ein Ort an dem er seines Lebens sicher ist, an dem er mit Treue rechnen kann, wo sein Gut ihm nicht streitig gemacht wird, wo seine Würde nicht verletzt wird, wo er weder hintergangen noch überfordert wird, wo - kurz und gut - seine Mitmenschen seine Freunde sind, wo einfach Burgfrieden herrscht. Das ist schon früh erkannt worden und hat seinen Niederschlag im Dekalog gefunden. Beides ist im Menschen natürlich beisammen: das Verlangen nach Freiheit und das Verlangen nach Geborgenheit. Wie lässt sich das mit einander vereinbaren, das Zentrifugale mit dem Zentripetalen im Menschen? Nur so, dass ein Mensch, der das Elternhaus verlässt es weder als Freibeuter noch als Paradesoldat tut, sondern als Mensch, der - mit den Defiziten von Freiheit und Geborgenheit vertraut gemacht - weiß: Geborgenheit alleine macht träge, faul und dumm und Freiheit alleine macht arrogant und unmenschlich.
 
Ich lese auf Anraten meines Sohnes Joachim noch einmal den „Grünen Heinrich“ von Gottfried Keller in der ersten Fassung. Ich lese ihn mit großer Überraschung, weil ich feststellen muss , dass Keller schon auf Abstand zum Christentum geht in seiner Freiheit, zu beobachten und daraus dann seine Erkenntnisse zu gewinnen. So hat auch er schon das Problem erkannt, das sich uns Menschen stellt, wenn wir versuchen, andere Menschen auf unserem Weg mitzunehmen, ohne sie zu manipulieren. Er - der grüne Heinrich - steht als Beobachter am Weg, als der Festzug an ihm vorbeizieht und am Ende schließt er sich ihm an. Selbstbestimmung ist des Menschen natürlichste Regung und Sinn unseres Daseins.
Die Grundelemente dafür ergeben sich aus dem Bedürfnis des Menschen nach Geborgenheit und Freiheit. Denn in der Geborgenheit sind wir Menschen frei von den Bedrohungen unseres Lebens und fühlen keine Fesseln. Erst wenn in der Geborgenheit dem Menschen Fesseln angelegt werden    wenn ihm in ihr das Recht zur Selbstbestimmung genommen wird, dann meldet sich das Bedürfnis nach Freiheit.
Kann denn in der Geborgenheit so etwas wie Unterdrückung und Unterwerfung geschehen? Es ist immer der Terror, der psychische Krebs, die Lust über andere Menschen Macht zu gewinnen, der wie eine Krebszelle die anderen Zellen angreift und zerstört. Dabei bedient sich diese Zelle der typischen Instrumente aller Herrschaft: der Drohungen und der Versprechungen. Mit diesen Instrumenten wird den Unterdrückten ihr Selbstbestimmungsrecht abgekauft oder abgetrotzt.
 
Im Zusammenhang mit dem Gedanken, dass die Selbstbestimmung ein wesentliches Moment der Freiheit ist, erinnerte ich mich an Kierkegaards Versuch, den Vorgang des Glaubens sehr vereinfacht als den Schritt vom „posse“ zum „esse“ zu beschreiben, der dann ja eine Entscheidung innerhalb des menschlichen Denkens fordert. Mir ist klar geworden, dass der gleiche Vorgang auch bei der Selbstbestimmung des Menschen geschieht. Wenn sich der „grüne Heinrich“ am Ende dem Festzuge anschließt, dann tut er das völlig frei aus innerer Zustimmung zu dem, was er da gesehen hat. Die freikichlichen Gemeinschaften fordern in der Bekehrung diesen Akt der Selbstbestimmung. Damit wird deutlich, dass die Selbstbestimmung als solche noch lange keine Garantie dafür gibt, dass ich mich nicht für die Fremdbestimmung entscheide, also der Freiheit meines Denkens abschwöre.
 
Die Selbstbestimmung ist aber ein Vorgang im Denken des Menschen. Auch bei Kindern schon? Wenn der Säugling weint, ist es sicher noch nicht vom Denken gelenkt, sondern vom natürlichen Hunger und wenn er das Laufen lernt, vom Wunsche es den Erwachsenen nachzumachen. Das Alles werden die Psychologen doch längst schon erarbeitet haben. Was zerbreche ich mir darüber den Kopf? Für mich ist die Selbstbestimmung von einer gedanklichen Verarbeitung des Erlernten und Erlebten nicht zu trennen. Entscheidend ist der Augenblick , in dem ein Mensch freigegeben wird oder sich frei macht aus dem Garten oder dem Gefängnis des Elterhauses. Unser Bestimmtsein zum Leben ist zugleich auch die Basis unserer Selbstbestimmung. Unser Leben ist also in unsere Hände gegeben.
 
 In der Literatur, in der modernen Literatur begegne ich auf Schritt und Tritt der Kritik am dogmatischen Glauben, überall bekomme ich das Unbehagen zu spüren. Im Morgenprogramm des WDR 3 stand eine Besprechung des lüdemannschen Buches auf dem Programm. Mit der provozierenden Behauptung: „Das Grab war nicht leer!“ wollte er Aufsehen erregen und den Schleier zerreißen, der das Wissen der Theologen vom Glauben ihrer Gemeinden trennt. Van den Hoeck und Ruprecht haben die zweite Auflage seines Buches über die Auferstehung abgesetzt. Was der Rezensent da brachte, war für mich nicht neu. Auch bei Lüdemann der Versuch, mittels 1. Kor. 15 die Auferstehung als Kombination von erlebter Wirklichkeit Jesu und Vision zu verstehen. Er tangiert meine Erkenntnis nicht. Das „nach der Schrift“ bei Paulus nimmt auch er - nach meinem Dafürhalten - nicht ernst genug.
 
Heute ist mir erst bewusst geworden, wie weitreichend die Sicht des Jahwisten war. Angesichts des Lebenskundeunterrichts in Brandenburg stellte ich mir die Frage, was die Lehrer denn für alle Schüler gleichermaßen Zutreffendes unterrichten könnten? Da fiel bei mir der Groschen, dass dies Elternerlebnis auf der ganzen Erde als der gleiche Vorgang erfahren wird und niemand etwas dagegen haben könnte, wenn an ihm Liebe veranschaulicht würde, ebenso wie der Umgang mit und die Sicht der Schöpfung als einem wunderbaren Geschenk jedermann zwanglos zu einem selbstbestimmten Mitmachen bewegen könnte.
 
 Ich habe jetzt den lückenlosen Beweis dafür, dass dieser Jesus tatsächlich die Gotteskindschaft „elterlich“ gesehen hat. Das heißt: wie Eltern keines ihrer Kinder rückgängig machen, wenn es nicht so geworden ist, wie sie es sich gewünscht haben, so bindet sich Jesu Vatergott an seine Geschöpfe. „Er lässt seine Sonne scheinen über Gute und Böse und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“.
Er ist glücklich über jeden, der seine Selbstbestimmung darin sucht, auch seinerseits, seine „Sonne scheinen zu lassen über Gute und Böse und regnen zu lassen über Gerechte und Ungerechte“, denn „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“
Das habe ich in meinem Leben erst jetzt richtig verstanden. Im Blick auf einen Herrgott war es eine Überforderung, nicht hingegen bei einem guten irdischen Vater.
Ich gerate immer mehr in den Bann der Erkenntnisse meiner Arbeit. Ich entdecke in diesen Tagen wie die Dorfbewohner sich erneut im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ engagieren. Oberstes Prinzip dabei ist die Sauberkeit. Wie die Lehrer einen Aufsatz lesen, so lesen die hiesigen Dörfler das Aussehen ihres Dorfes nach Fehlern ab.
Fehler sind: Unkraut (heute Wildkräuter), Schmutz auf der Straße, Flecken an Häusern, ungeputzte Fenster. Manche sind geradezu darauf fokussiert. Dieses Saubermann-Denken, ist im Prinzip das Freund-Feind-Denken, das exemplarisch mit der Theokratie in der Bibel seinen Ursprung hat. Zuvor waren gut und böse, ungiftig und giftig, stumpf und scharf, angenehm und unangenehm, heiß und kalt als Erscheinungsformen des Lebens angenommen worden. Es war lediglich der Menschen Unerfahrenheit oder Unachtsamkeit, wenn sie zu Schaden kamen. Die Tiere merken es sich genau, wo ihnen etwas wehgetan hat. Mit der Personifizierung von Gut und Böse begann auch das Freund-Feind-Denken und ein ständiger Krieg gegen alles, was dem Menschen unbequem, unangenehm oder auch hinderlich war. Der ärgste Feind aber war schließlich der Tod. So ging man das Hinderliche wie einen Feind an mit dem Ziel es zu zerstören. Aber heute wissen wir, dass diese Sicht der Dinge falsch war und wir mit dem Unkrautvertilgungsmittel kein Paradies auf Erden schaffen werden, sondern eher ein Wüste. Des Jahwisten und Jesu Erkenntnis, dass unser Lebensraum nur unsere Lebensgrundlage bleibt im Beieinander aller Dinge, der dem Menschen willkommenen und der unerwünschten. Des Menschen Unterscheidungsvermögen ist subjektiv und führt in die Irre, wo es verallgemeinert wird. Heute wissen wir, wie gerade auf den Gebieten, auf denen große Erfolge erzielt wurden, in der Bekämpfung von Bakterien z.B., nach kurzer Zeit die Ernüchterung kam. Man musste zur Kenntnis nehmen, dass diese entweder sich an ihr Bekämpfungsmittel gewöhnt hatten, oder das Feld, das sie freigegeben hatten von anderen, noch viel gefährlicheren Bakterien überflutet wurde. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen hat heute für den, der mit Ohren hört, in denen Biblisches und Weltliches ständig beisammen sind, seine unüberhörbare Aktualität. Die Welt bekehrt sich zum Jahwisten und zu Jesus, während die Kirchen noch weit, sehr weit davon entfernt sind. Ich bemerke übrigens, dass außer mir kein Mensch die Vorgänge im Nahen-Osten, in Nordirrland, in Algerien, in Indien, u.s.w. ernsthaft unter dem religiösen Gesichtspunkt sieht. So kommt es, dass sie die letzte und tiefste Ursache für all die Feindschaft, die Theokratie, nicht in Rechnung stellen und das Ganze nur als ein momentanes Unglück ansehen. So sieht auch Israel wahrscheinlich nicht, dass es mit der letzten Wahl, in der Gegenüberstellung des JHWH zu seinem Kontrahenten, dem Herrgott, zur vielleicht letzten Schlacht angetreten ist. Netanjahu versucht die Fortsetzung der Friedenspolitik, also die jahwistische Linie mit den Zionisten. Aber die Hartliner unter ihnen, besonders Scharon, verweigern sich ihm. Diese Regierung währt nicht lange. Aus meiner Sicht ist die Basis des Zionismus wertlos: Israels Erwählung fundiert in der Landnahme und in der Königszeit Davids. Als an zufällige historische Ereignisse gebunden, trifft sie die hegel-lessingsche These. Es ist traurig zu wissen wie Millionen Menschen ihr Herz an Ereignisse hängen, die ihren Wert unwiederbringlich verloren haben, es sich aber nicht eingestehen wollen und darüber ihrem gelebten Leben die Wertschätzung versagen, die es verdient.
Wieder ein Gottesdienst mit Jes. 40: dem „Tröste, tröste mein Volk“. Und wieder nur den Honig aus der Blüte gesogen. Als ob hier von mütterlichem Trösten die Rede ist. Ich benötigte als Junge eine Zeitlang Hilfe bei meinen Schularbeiten. Die evg. Kirchengemeinde in Wesel hatte dazu im Jugendheim der Langen Beguinen Straße einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem ein eigenst dazu angestellter Jugendpfleger die Aufsicht über eine Handvoll Jungen führte. Ich weiß nicht mehr, was ich falsch gemacht hatte, aber ich musste bestraft werden. Dazu ging der Pfleger mit mir in sein Schlafzimmer, das gleich neben unserem Arbeitszimmer lag. Dort musste ich mich über sein Bett beugen und die Stockhiebe hinnehmen. Das geschah bei diesem Pfleger ohne jede Leidenschaft, nicht im Zorn. Dann nahm er mich wieder mit in den Arbeitsraum, setzte mich auf seinen Schoß und streichelte mir die Wangen, offenbar der Meinung eine echte biblische, pädagogische Handlung vollzogen zu haben und das in Anwesenheit der anderen Schutzbefohlenen.
Ist das noch „intellektuell redlich“ gepredigt, wenn man nur noch von dem Streicheln der Wange redet, ohne die vorangegangenen Züchtigungen zu erwähnen?
Auf der theologischen Datenautobahn weiter zu fahren, vermag ich nicht mehr.
Gestern und vorgestern wurde der Papst in Deutschland von seinen Anhängern hochgehalten. Im Fernsehen machte er einen müden Eindruck. Deutlich ein alter Mann. Allerdings war er über die Vorgänge auf dem Markt der Theologie informiert. Er wusste etwas vom Trend zur „Beliebigkeit“. Natürlich warnte er davor. Zu viel Freiheit sei doch gefährlich. Darüber bin ich noch nicht im Klaren: Muss das Korrektiv der Freiheit die Herrschaft sein? Oder ist es meine Selbstbestimmung, mit der ich meines Bruders Hüter sein will? So, wie die Theologen darauf bedacht waren, dass der Sinn des Lebens von einer Instanz außerhalb unseres Kopfes kommen müsse, wenn wir sichergehen wollten, keiner Selbsttäuschung zu erliegen, so scheint es, haben sie auch das Korrektiv der Freiheit nicht im Menschen lassen zu dürfen gemeint, sondern aus ihm heraus in Herrschaft verlagert.
 

30 -06 - 96

In einem der Gottesdienste, die ich heute morgen gehört habe, wurde über die Josephsgeschichte gepredigt. Dabei fiel mir auf, dass sie deutlich an das Gleichnis vom verlorenen Sohn erinnert. Die Brüder bieten sich letztlich Joseph als Sklaven an, so wie der heimkehrende Sohn als Tagelöhner dem Vater. In beiden Fällen wird diese Selbsterniedrigung vom Tisch gewischt und deutlich gemacht, dass es sich hier nicht um einen Gnadenakt handeln soll, sonder um die Vernichtung des geschehenen Unrechts.
 
Ein Gottesdienst aus Arolsen. Es ging um die Taufe. Der Text: „lebendige Steine“. Für mich ist diese ganze Schönfärberei des Christseins und seiner inwendigen Gegenwart Gottes bei Leid und Unglück so deprimierend, dass ich immer mehr Joachim recht gebe, wenn er meint, in diese Front liebenswürdiger Glaubensblindheit gäbe es keinen Eingang mehr. „Im Land der Blinden“ halten sich die Blinden für gesund und wollen dem Fremdling
die Augen aus dem Kopf nehmen, weil sie den Sehenden für krank halten. Im letzten Augenblick entkommt er der Gefahr.
 

22 - 07 - 96

Die Sache Lüdemann ist im „Weg“ wieder breitgetreten worden. Diesmal von unserem rheinischen Präses Beyer. Ganz im Tone gläubiger Arroganz. Dabei hatte ich ihm als Antwort auf seine Gratulation zu meinem Geburtstag das Plädoyer geschickt. Aber solche Herren schweben so hoch oben, dass sie entweder von ihren Vorzimmern von jeder Anfechtung verschont werden oder mit einem kurzen Blick schon das Ganze zu kennen meinen. Ihres Glaubens so gewiss, wie der „Hans guck in die Luft“ des Erdbodens unter seinen Füßen.
Wieder ist mir etwas durch den Kopf gegangen. Dieses Beieinander von religiösen und nationalistischen Tendenzen in fast allen derzeitigen Konflikten unter den Völkern. Ob Irland, ob Jugoslawien, ob der nahe Osten, ob Afghanistan, ob Algerien, ob Tschetschenien, ob Kaschmir, ob Äthiopien oder der Sudan, überall findet sich diese Mischung. Steckt dahinter der gleiche Wunsch, den Hitler im Herzen trug: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“? Oder ist es auch der Menschheit Wunsch: Eine Menschheit, ein Glaube, ein Gott? Dazu wurde schon der Turm von Babel errichtet: Als überall sichtbares Wahrzeichen der Einheit. Das muss wohl sein, denn auch die DIN-Maße und der Rechtschreibe-Duden frönen dem gleichen Erfordernis. Und doch wird mir unbehaglich dabei. Bei der Orthographie denke ich unwillkürlich an die Orthodoxie, denn sie haben gemeinsam die Unterscheidung von richtig und falsch, das aber kommt in die Nähe von gut und böse und führt auch in der Rechtschreibung zur Beurteilung von Menschen.
 

20 - 08 - 96

Jetzt ist mir klar: Der Schritt vom JHWH zum HERRN war für die israelitischen Stämme nur ganz schwer nach zu vollziehen. Aber der Traum vom Reich, von der Königsherrschaft Gottes hatte etwas Faszinierendes, etwas Zentripetales, wie der Turmbau zu Babel und das besonders in Augenblicken, in denen sich die Stämme aus den Augen zu verlieren drohten. Darum konnte sich dieser Traum auf die Dauer durchsetzen. Aber er konnte immer nur als Traum wachgehalten werden, und im festen Glauben an die Landnahme und an die Königszeit als göttlichem Handeln. Traum ist er bis heute geblieben. Er hatte nie Verbindung zur Wirklichkeit. Wie kommt es, dass Träume Menschen um den Verstand bringen, oder tut es nur der Traum von der Macht, der Gedanke in der Überfülle des Lebens, seiner Erscheinungsformen und Unberechenbarkeiten die Übersicht zu behalten, Herr der Lage zu bleiben? Der Wunsch, das Leben zu fesseln, dem ewigen Fluss Einhalt zu gebieten mit Gewalt.?
 

 25 - 08 - 96

Ein altkatholischer Gottesdienst aus Köln.. Das „predigende Schlüsselbund“ diente zur Veranschaulichung der Stellung des Papstes. Seine Schlüsselstellung wurde akzeptiert, nicht ihr Gebrauch: Nicht Herrschaft, sondern Dienst. Sag das mal dem Papst, der seine Herrschaft als Dienst versteht und nicht mehr wahrnehmen kann, dass die Herrschaft in ein homerisches Gelächter ausbricht, wenn ihr das Gesicht eines Dieners geschenkt wird. So bemäntelt, ist ihr Flötenspiel verlockend.
 

28 - 08 - 96

Ich lese das Rowohlt Bändchen über Spinoza und bin bewegt davon, wie auch er das Joch der Bibel abzuwerfen bemüht war, eingemauert in einem Gefängnis von jüdischer, reformierter und katholischer Orthodoxie. Wenn sie wüssten, was sie tun, sie würden vor sich selbst davonlaufen... Wo sind die Psychologen, die uns von der Angst vor der Fülle des Lebens befreien. Nicht der Wille zu einem Zentrum, einem Turm oder auch zu einem Idol oder Gott hält uns zusammen, im Gegenteil: Der eine Gott hat auf dieser Erde mehr Unheil angerichtet als alle Naturkatastrophen. Nicht der Zwang zum Zusammenleben macht Frieden, sondern der Wille dazu jedes einzelnen Menschen.
 

30 -8 - 96

Zugegeben: Der Duden muss sein. Aber ein Blick auf die Menschen unseres Landes zeigt doch die Hemmungen, die diese Orthographie ganz allgemein bei den Zeitgenossen dem Schreiben gegenüber hervorruft. Auch hier geht eine Kluft durch unsere Reihen, die der Eingeweihten einerseits und der Laien andererseits, wie in einer Kirche. Ist Orthographie eine Kunst oder gar ein Glaube? Nicht jedermanns Sache? Treibt die Menschheit einer Vereinheitlichung entgegen: Eine Menschheit, eine Sprache, eine Rechtschreibung, ein Maß, ein Format. Ich sehe ein, dass uns dieser Weg vorgezeichnet ist, dazu noch eine Währung. Das hätte ich beinahe vergessen. Und jetzt schon ein Gott und mit ihm eine Willensbildung? Ich schnaufe bei diesem Gedanken! Und doch sehe ich die Zwangsläufigkeit in dieser Entwicklung. Im Blick auf die Sprache lässt sich der Vorgang vermeiden, wenn neben der Muttersprache überall auch die Weltsprache gelernt wird. Einheitliche Maße und Währungen sind denkbar. Die Rechtschreibung eine Kunst und die Religion? „Jeder nach seiner Façon“?
 

31 - 08 - 96

 „Jetzt wackelt alles!“ soll Ernst Troeltsch in einem seiner Kollegs um die Jahrhundertwende ausgerufen haben. Daran wurde ich erinnert, als ich las, dass aus Amerika ein energischer Einspruch gekommen ist gegen die Behandlung der „Scientology“ Gesellschaft in Europa. Was geschieht? Die Psychoanalyse hat entdeckt, dass der Mensch in seiner Jugend geprägt wird, wie von einer Prägemaschine und sich, weich wie Wachs, prägen lässt durch ständige Wiederholung bestimmter Behauptungen. Diese Methode ist so alt wie die Lehre von einem die Welt beherrschenden HERRgott. Als die ständige Erinnerung an ihn nicht mehr am Leben abgelesen werden konnte, wie beim VATERgott, sah man sich gezwungen mittels ständiger Widerholung und Erinnerungszeichen die neue Sicht der Dinge einzuprägen. Darin gründet die Macht der biblischen Religionen im öffentlichen Leben bis heute. Darin liegt auch die Ursache für ihren Kampf gegen die Geburtenbeschränkung. Was tut die „Scientology “? Sie hat entdeckt, dass sich das Prägeverfahren auch verkürzen und sogar bei Erwachsenen erfolgreich durchführen lässt, natürlich auch mit Zuckerbrot und Peitsche. Beispielhaft ist Aarons Verfahren, als er widerwillig - wegen Moses langem Ausbleiben vom Volk gedrängt - Zeit zu gewinnen sucht und von der Bevölkerung alle ihre Kostbarkeiten verlangt, damit rechnend, dass es der Aufforderung gewiss nicht nachkommen würde. Er hatte sich geirrt. Für einen Herrgott geben die Menschen alles, was sie haben, auch ihre innere und äußere Freiheit.
Es war wieder Saunatag. Der Sprecher im Radio erzählte: Im Orient kommt ein Mann zum Arzt. Im Vorzimmer hängt ein Schild mit der Aufschrift: „Sind Sie Moslem, dann gehen Sie durch die rechte Tür“. Er gelangt wieder in ein Vorzimmer mit abermals zwei Türen mit der Aufschrift „Männer“ bzw. „Frauen“. Er geht durch die Tür für Männer und sieht sich wieder zwei Türen gegenüber. Auf der rechten ist zu lesen „Für solche, die mehr als 500 verdienen“. Da unser Freund sich überfordert sieht, geht er lieber durch die linke Tür. Aber da ist er wieder draußen.
Zum Prägeverfahren in den Religionen ist mir eingefallen, dass hier die Ursache für den Widerstand von Katholiken und Moslems gegen eine Geburtenregelung liegt. Über die Unzahl von geprägten Kindern führt ein sicherer, unblutiger, „gehorsamer“ und scheinbar „lebensfreundlicher“(?) Weg zur Übermacht.
Sind wir Evangelischen so naiv, dass wir das nicht merken? Wir haben nicht diesen Willen zur Macht, sondern den Glauben, dass der HERR seine Kirche erhält und nehmen darum nicht, wie es scheint, diese Erhaltung und Erweiterung der Kirche als Gottes Stellvertreter auf Erden selbst in die Hand, oder jedenfalls nicht in diesem Selbstbewusstsein. Darum meint die „Junge Kirche“ sich so abzappeln zu müssen, in neuen Betätigungen meditativer, spielerischer, musikalischer, tänzerischer und liturgischer Art, um etwas von ihrer Anziehungskraft wieder zu gewinnen, im Konkurrenzkampf mit den anderen Religionen. Sie hat das Liebeswerben Gottes um den Menschen in der Christologie verloren. Nun versucht sie so zu tun, als ob sie es noch hätte. Die anderen Religionen biblischen Ursprungs haben längst schon auch diese vergnügliche Seite ihrer Religion in die eigene Hand genommen und zeitlich geregelt, der Gnade des HERRgotts auch den Tribut der Freude gewährend.
 
 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

02 - 09 - 96

 Das „dritte Reich“ ist zusammengebrochen. Der Kommunismus nahezu auch. Ich will ja gar nicht meiner Kirche schaden. Ich will und kann sie aus ihrer Not, in der ihr Glaube immer weniger mit der Wirklichkeit zu versöhnen ist, befreien. Kein Mensch redet noch von „Sünde“, schon gar nicht mehr von „Erbsünde“. Aber das sind doch die Fundamente des jüdisch-christlichen Glaubens. Sie sind weggeschmolzen, auch im Unterricht unserer evangelischen Kirche.
Nun hängt das Ganze in der Luft und erweist sich als das, was es ist, nur noch als Traum von einer Weltregierung über eine Welt, die von Menschen schon nicht mehr regierbar erscheint. Und doch ist im Leben der Natur ein riesiger Ordnungswillen vorhanden, der beispielsweise den Lebewesen immer aufs neue die Organe schafft, die notwendig zum Leben sind und an der besten Stelle sitzen, an der sie ihren Dienst tun müssen. Was ist Leben? Man kann nicht sagen: Es wird regiert, denn es sucht sich seinen Weg selber und schafft sich selbst die Instrumente um ihn sich zu bahnen und fand so bisher immer einen Weg zu leben als Baum und Strauch, als Tier und Mensch, auch als Virus und Bazillus. Die Frage nach Gott ist zur Frage nach dem Leben geworden. Nein, noch genauer, denn die Ursachen des Lebens sind ja die Lebensbedingungen: Die Sonne mit ihrer Wärme, die Erde mit ihrer Anziehungskraft, einer bestimmten Temperaturspanne und einem hohen Vorkommen von Wasserdampf und Sauerstoff sowie einer Unzahl von Chemikalien und der Elektrolyse. Mehr weiß ich auch nicht.
Ich jedenfalls habe mein Leben von meinen Eltern. Dem Vorgang der Zeugung hat das Leben die Lust beigegeben, um Fortsetzung zu gewährleisten. Was ist die Triebkraft zu so viel Kreativität? Das Notwendige? Das Hindernis das überwunden werden muss ? Ich weiß auch nicht mehr weiter und denke, dass andere sich darüber schon besser den Kopf zerbrochen haben. Jedenfalls den Sinn des Lebens an der Geburt eines Kindes abzulesen, war mehr Weisheit als die des Plato und des Aristoteles. Ich lese Spinoza und sehe auch da das Bemühen, wieder den Glauben auf den Boden der Wirklichkeit zurück zu holen. Er nennt die Wirklichkeit allerdings „Natur“ und sucht in ihr die Gottheit.
  

05 - 9 - 96

Ich habe gestern zum ersten Mal den ganzen Komplex der Theokratie das Gebäude des „Du sollst“ genannt und damit dem kreativen „Ich will“ gegenübergestellt. Die Schuldzuweisung an Gott seitens Adams und Evas in der jahwistischen Schöpfungsgeschichte besagt doch: Hättest Du Deine Sache besser gemacht und uns das Wissen um gut und böse gleich mitgegeben, dann wäre das nie passiert. Die Propheten schließen sich diesem Vorwurf an und fordern folgerichtig ein neues Herz oder den neuen Geist für den Menschen und die Kirche bettelt noch heute in jedem Gottesdienst darum, Gott möge doch dies Loch endlich stopfen und den Menschen das ethische Wählen erlassen, indem er selber das Richtige ihm eingibt, das er, der Mensch längst als notwendig kennt, aber dann doch lieber von Gott getan wissen möchte, die eigenen Kräfte dazu unterschätzend. Oder: Das Gesetz ist das Gute - und damit basta(?) - und mit dem Kopf durch die Wand. Auch hier findet sich wieder dies naturhafte Beieinander von gut und böse, das dem Menschen die meisten Sorgen macht und alle seine geistigen Kräfte mobilisiert. Dies Lernen-Müssen, dies Wissen-Müssen, dies im Gedächtnis-Behalten-Müssen, dann dies Beurteilen-Müssen, dies Wählen-Müssen und Entscheiden-Müssen. In einem Wort: Dieser unaufhörliche Zwang, sein Leben selber durch tausend Gefahren hindurch steuern zu müssen und dann noch im Falle des Irrens dafür verantwortlich gemacht zu werden, das macht den Wunsch „ zu sein wie Gott“, dem das alles abgeht, ganz natürlich.
 

06 - 09 - 96

Ich las heute in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ dazu: „Ich verlange nicht, dass Sie jemals billig gegen mich sein sollen, versetzte jener, aber so viel muss ich Ihnen sagen: wir anderen, die wir von der Gesellschaft abhängen, müssen uns nach ihr bilden und richten, ja wir dürfen eher etwas tun, das ihr zuwider ist, als was ihr lästig wäre, und lästiger ist ihr in der Welt nichts, als wenn man sie zum Nachdenken und zu Betrachtungen auffordert. Alles, was dahin zielt, muss  man ja vermeiden und allenfalls das im stillen für sich vollbringen, was bei jeder öffentlichen Versammlung versagt ist.“ Warum ist „Nachdenken lästig“? So lästig, dass manche einem die Freundschaft aufkündigen, wenn unsereiner sie zum Nachdenken bewegen will.
Ich denke immer noch darüber nach, warum die Forderung, nachzudenken, so emotionale Reaktionen auslöst. Ich kann verstehen, dass einer, der sich eine Meinung von Gott, einer Partei, von der Politik, von der Erziehung seines Kindes, von seiner Frau gebildet hat, gerne diese Dinge so ansieht und behandelt wie das in der Schule Gelernte. Es sind in der Regel ja auch gängige Münzen in der Gesellschaft, so dass der Angesprochene, der auf der Einbahnstraße seiner Mitmenschen fährt und darin seiner Sache sicher zu sein glaubt, sich irritiert sieht. Da zum Nachdenken aufgefordert zu werden, hieße doch den Fließverkehr verlassen zu müssen und zunächst erst einmal zu lernen mit kritischen Augen zu sehen. Aber, das ist der Knack- Punkt dabei, mit dieser Denkpause des Einzelnen wäre der Sog der Konventionen, der gesamte Fließverkehr betroffen. Deshalb „Belästigung“ und kraft des Sogs, Zerstörung aller solcher Hindernisse.
 

11. 09 - 96

Überdies ist mir jetzt auch klar geworden, wo in Zukunft die Aufgabe der Kirche liegen könnte. In gewisser Weise behält die „Zwei Reiche Lehre“ ihre Berechtigung. Die Aufgabe des demokratischen Staates bleibt wie sie ist: Mit dem Willen zur Liebe regieren. Das tut er, jedenfalls bei uns in Deutschland.- Dies Kompliment hat ihm aber noch keiner gesagt.- Das ist schwierig in einem Volk, in dem die Menschen weithin im Willen zur Macht erzogen werden. Genau da wäre die Hilfestellung der Kirche erforderlich, indem sie Eltern und Kinder im Willen zur Liebe prägt, Ihnen bewußt macht, dass ihr und aller Menschen Leben ein Geschenk ist, das leicht zerbrechlich und darum sehr behutsam behandelt werden sollte, nicht nur das eigene, sonder auch das aller anderen. Besser wird es nie mehr auf dieser Erde in Worte gefaßt werden als mit dem „und deinen Nächsten wie dich selbst“. Solche Menschen sind dann auch leichter zu regieren. Das Problem, wie bringt man Geborgenheit und Freiheit zusammen, beschäftigt mich noch immer. Ich muss es noch einmal von einer anderen Seite her anfassen. Leben tritt in eine an sich lebensfeindliche Welt ein. Vergleichbar dem Licht, das in die Dunkelheit eintritt und sie beseitigt. Das Licht kann zwar die Dunkelheit beseitigen. Aber die Dunkelheit kann nicht das Licht beseitigen. Sie kann immer nur da hin, wo das Licht weggeht. Das Licht ist also eine Kraft, während die Dunkelheit das Nichts ist. Ähnlich ist es doch auch mit dem Leben. Es ist eine Kraft, die ähnlich dem Licht oder auch vermöge des Lichtes einmal   in eine leblose Welt eindrang und sich durch Fortpflanzung bis heute kraft des Lichtes hat erhalten, ja vermehren und höher entwickeln können. Dabei stieß es auf lebensfreundliche und lebensfeindliche Gegebenheiten, mit denen es zu leben gezwungen war und noch gezwungen ist und aufs Sterben. Das Leben -.so pauschal von ihm geredet - steht nun vor der Frage, ob es sich darüber freuen kann oder ob es diesen Kelch, zu kurzem Trank an die Lippen gesetzt und dann weggerissen, verfluchen soll? Nun muss man dem Leben zugestehen, dass es bemüht ist „langes Leben“ zu gewähren bis hin zu einer genüßlichen Sättigung mit einem echten Ja zum Sterben. Im Großen und Ganzen hat Max Frisch wohl recht, wenn er seinen Roman „Mein Name sei Gantenbein“ enden lässt mit dem Satz: „Leben ist schön“.
 

12 - 09 - 96

 Die Bibel sieht es auch so, wenn sie behauptet, das Leben sei uns geschenkt, in der Absicht, unser ganzes Herz für den unbekannten Schenkenden und sein Geschenk zu gewinnen. Wir wissen heute, dass unser Leben primär der Sonne und ihrem Wirken auf dieser Erde zu verdanken ist, also keinem denkenden Wesen. Aber das Geschenk ist da auch in Gestalt dieser Erde. Wir ernähren uns von ihr, wir bauen unsere Häuser darauf und rechnen mit ihr als der festesten Währung. Kein Geringerer als Luther hat gesagt, das sei unser Gott, auf das wir unser ganzes Vertrauen setzen. Damit sollte alles klar sein.
Mich beschäftigen noch immer die beiden menschlichen Verlangen, einerseits nach Geborgenheit und andererseits nach Freihheit. Es sind Wunschträume. Nirgendwo lebt ein Lebewesen auf der Erde ungefährdet und nirgendwo ungefangen. Man kann immer nur von relativer Geborgenheit und Freiheit reden. Was ist dann noch das Schöne am Leben? Ich behauptete von der Liebe, sie regiere nicht, sondern sie liebe und schütte ihr Füllhorn über alle Menschen aus. Ich behauptete, das Licht sei eine Kraft, vor der Dunkelheit nur fliehen oder sich verstecken kann. Sollten Licht, Liebe und Leben das gemeinsam haben, dass sie unwiderstehliche Kräfte sind vor denen die Dunkelheiten, Hass und Feindschaft unter den Menschen, Krankheit und Tod auf der Flucht sind oder sich verstecken müssen und erst wieder hervorkommen können, wo Licht, Liebe und Leben gegangen sind? Wenn es so wäre, hätte die Wertschätzung des Lebens ihre volle Berechtigung:
 

14 - 09 - 96

 In dem Liede „Ein Heller und ein Batzen, die waren beide mein...“ heißt es auch „und draußen auf der Heide da singt der vogelfrei!“. Es hat lange gedauert, bis ich den ursprünglichen Sinn dieses Satzes begriffen habe. Ein Vogelfreier war im Mittelalter ein von Kirche und Gesellschaft Geächteter. Draußen auf der Heide war weit und breit kein Verfolger zu sehen. Da stiehlt sich die Lebensfreude auch eines solchen Menschen über seine Lippen. Unsere Lieder scheinen nur anderer Art zu sein. Auch sie lösen sich spontan von unseren Lippen, wenn weit und breit keine Gefahr droht.
 

15 - 09 - 96

Was ist der Unterschied in der Erziehung in Gestalt von Prägung und in Gestalt von Einüben in die Selbstbestbestimmung? „Messer, Gabel, Scher und Licht dürfen kleine Kinder nicht!“ Das ist ein Gesetz und soll eingeprägt werden. Darum fehlt auch die Begründung, die erklären müsste, warum das so ist. Das Kind dahin zu bringen, dass es im Wissen um die Verletzungen und Zerstörungen, die mit diesen Hilfsinstrumenten - es sind immerhin Hilfsmittel des Menschen - verursacht werden können, bedarf es einer sorgfältigen Einübung im Umgang damit und zugleich einer Willensbildung, diese Dinge nur notfalls als Waffe zu gebrauchen. Letzteres ist ein schwieriger Vorgang, der zudem viel Geduld erfordert. So wird statt dessen in der Regel, das Gesetz in den Raum gestellt und immer wieder hergesagt und notfalls mit einem Klapps auf die neugierigen Hände geahndet., bis das Leben dem Kinde unter der Hand beibringt, dass im Grunde alles Mögliche dem Leben dienlich und dem Leben abträglich sein kann. So liegt es letzten Endes am Willen des Kindes, welchen Gebrauch es mit den Gegenständen macht. Damit ist deutlich, dass der Willensbildung des Kindes die größere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Der Wille zur Macht oder der Wille zum behutsamem Umgang mit allem Lebendigen und seiner Lebensgrundlage...
 
Die heutigen Predigten über den jahwistischen Schöpfungsbericht rissen den Vorgang aus seinem Zusammenhang und bedienten sich nur des Gartenteils. Der eine Pfarrer tat es, mit dem Wunsch einer Schauspielerin, die zufällig zu Besusch bei ihm war und beim Anblick der Schönheit des Ortes und seiner Umgebung gerufen haben soll: „Bewahrt euch dieses Paradies!“  Der andere Pfarrer gestand zunächst zu, dass es zwei Schöpfungsgeschichten gäbe.
Ging darauf aber nicht weiter ein. Dagegen versuchte er den Gartenteil der Geschichte als Ausblick aus diesem Elend auf eine zukünftige Herrlichkeit seinen Zuhörern und -Innen vorzustellen.
Ich lebe mit Menschen zusammen, die beten für eine junge Frau, die von einem Hirntumor befallen, lebend, keinen Umgang mit ihrer Umgebung mehr hat. Sie beten für einen Krebskranken und lauter ähnlich schrecklich Fälle. Ich frage sie, ob sie ein solches Leben, das so viel Elend enthält, noch für schön halten? Ich werde verständnislos angesehen, wenn ich durch meine Frage das Leben belaste. Habe ich mich verlaufen? Aber ich muss weiter fragen: Was ist denn das Schöne am Leben? Dass unsereiner zeitweilig das Elend in dieser Welt vergessen kann? dass ich in Verbindung mit dem Licht eine Speerspitze des Lebens gegen das Nichts bin? Oder frage ich so kritisch, weil ich alt bin und keine Rücksicht mehr auf die Lebenden nehmen zu müssen glaube?
 

16 - 09 - 96

Wie ich das Leben auch ansehe, biblisch als Geschenk oder realistischer als ein Produkt des Sonnenlichtes, das seine Kraft auch im menschlichen Leben gegen das Nichts setzt, ich komme immer zu dem selben Resultat, wenn ich frage: Wie äußert sich diese einseitige Kraft, von der der Mensch lebt, im Leben des Menschen? Die Antwort lautet so oder so: In der Liebe, die auch das Nichtige entmündigt, dem Zerstörerischen keinen Raum, kein Mitspracherecht, keine Daseinsberechtigung zuerkennt.
 

17 - 09 - 96

Wenn wir das Leben als Produkt des Lichtes erkennen und entdecken, dass auch ihm die Kraft innewohnt da zu sein und sich durch einen Urwald   lebensfreundlicher und lebensfeindlicher Wegbegleiter seinen Weg bahnt und dann noch Leben weitergibt, dann fragt man sich doch, wohin führt das, angesichts der Explosion dieses Lebens in Gestalt von Menschen auf dieser Erde?Der Gedanke liegt nahe, dass dies dann doch auch wie bei den Pflanzen und Tieren von den jeweiligen Lebensbedingungen abhängig ist. Sollte der Fortbestand des Lebens auf dieser Erde nun nicht mehr nur alleine der Natur, sonder auch unserem Denkvermögen obliegen?
 

18 - 09 - 96

 Ich lese zur Zeit im „Willen zur Macht“ und finde dort einen Gesprächspartner, der im Willen zur Macht im Grunde den Willen des Lebens zum Leben meint, der nun in der Tat keine Dekadenz, keine Ermüdung kennt und sich derer bedient, die der Weitergabe des Lebens die besten Chancen geben. Das ist aber neben der natürlichen Auslese nun auch Sache des Menschen. Da aber sind es die, die sich diesem gigantischen Willen zum Leben mit ihrer ganzen Liebe einfügen.

19 - 09 - 96

„Der Weg“ ist wieder gekommen. Heute ...... es mich an, was da zu lesen ist: „Behinderung als gute Gabe Gottes annehmen“. Eine Meditation eines Oberkirchenrates Hans Ulrich Stephan. Dann Klaus Berger: „Die Welt wird als bedroht und korrupt verstanden, voll von lebensfeindlichen Mächten. Und mitten in dieser bösen Welt tut sich ein Weg des Lebens auf, eine Macht, die nicht in den Untergang zerrt“.
 

20 - 09 - 96

Im Laufe meiner Predigtarbeit stieß ich auf ein Phänomen, das in meiner Gedankenwelt so noch nicht erkannt war. Licht und Finsternis galten mir als zwei Mächte, die mit einander im Streit lagen und im Kompromiss grau erzeugten. Aber es ist anders. Licht ist eine Kraft, die sich überall durchsetzt und Finsternis oder das Nichts ist das, was bleibt, wo kein Licht ist oder hinkommt. Nun hat unser Leben mit allem, was diesem Leben dient, sein Dasein von diesem Licht, sagen wir ruhig, von der Sonne, unserem Lebenslicht. Damit hat es aber auch die Eigenschaft des Lichtes, seine Macht, wo und wann es auftritt Leben zu sein, zwar sich selber verbrauchend, aber fähig, neues Leben mit neuen Kräften immer wieder weiterzugeben. Getragen von der gigantischen Macht des Lichtes hat es im Laufe der Jahrtausende die Erde begrünt und mit Tier und Mensch bevölkert und von seinen, des Lichtes Produkten ernährt.
Da ist in der Tat „der Willen zu Macht“, den Nietzsche offenbar unter den Menschen vermißt und sie darum der Dekadenz und des Nihilismus bezichtigt. Nun ist es aber so, dass die Menschheit sich weithin unter der Herrschaft eines großen, außerirdischen, geistigen „Du sollst“ zu leben versteht, m. a. W. Ein anderer hat an ihrem Leben sein Interesse, so dass sie sich der tragenden gigantischen Kraft, der sie zugehören, nicht bewußt sind und ihr darum auch nicht zuarbeiten. Im Gegenteil! Genüßlich plündern sie den Schatz aus, den das Licht angesammelt und den Menschen zum Leben bestimmt hat. Dabei ist erst wenigen bewußt, dass der Wille zum Leben, diese gigantische Kraft, nun auch die Mitarbeit der menschlichen Köpfe braucht mit ihrem Willen zur Liebe des Lebens.
 

02 - 10 - 96

Ich habe auch in Leverkusen schon in der Allianz- Bibelwoche mit der Freien Gemeinde und den Baptisten zusammengearbeitet, ohne mehr als die eine Erfahrung gemacht zu haben, dass die Kirche ihr Fischteich ist, aus dem sie ihre Gefolgschaft holen. Ich frage mich, woran das liegen könnte? So gesetzlich die Kirche in ihrer Unterweisung von Kindern ist oder zu meiner Zeit noch war, so liberal ist sie in ihren Predigten und ihrer Einflußnahme auf den konfirmierten. Menschen. In ihrem Glauben, dass ohne den Heiligen Geist eben nichts in der Kirche gehe, hütet sie sich vor einer Willensbildung ihrer Glieder. Das ist bei den freien Gemeinden anders. Sie fordern geradezu diese Willensentscheidung und haben damit natürlich Erfolg. Die Selbstbestimmung des Menschen lässt sich kaufen, weil es so bequem ist, nicht dauernd das Ruder seines Schiffes in der Hand halten zu müssen. Bei Flugzeugen und Schiffen, meine ich, gehört zu haben, gibt es so was. Im Alltagsleben kann unsereiner sich das nicht leisten, weder beim Kochen noch beim Einkauf, am wenigsten beim Autofahren. In der Religion ist das anders. Da werden die Kinder schon wie Lokomotiven auf Schienen gestellt, Weichen gibt es nicht, sondern nur Hebebühnen, mit denen das Fahrzeug auf ein anderes Geleise gestellt oder von den Schienen herunter genommen sein will.
Wenn ich das so schreibe und dann nachlese, dann klingt das so wenig freundlich. Dabei liebe ich meine Kirche nach wie vor. Ohne sie und ihr Bemühen, uns junge Theologen der Bekennenden Kirche aufs Beste bibelkundig zu machen, hätte ich nie die Zusammenhänge entdeckt, die mich jetzt in den Zustand versetzt haben, mein Dasein im Sonnensystem mit dem Jahwisten und Jesus als Segen für mich und meine Mitwelt zu verstehen, auch mit seiner Grenze.
Die Freiheit eines evg. Pfarrers ist groß. Hermann Diem kam einmal aus Amerika zurück und lobte unsere beamtete Stellung als Pfarrer, weil sie uns in der Predigt unabhängig mache vom Wohlwollen unserer Zuhörer. In Amerika müsse ein Pfarrer immer auch darauf bedacht sein, dass sein Salär direkt aus der   Hand seiner Zuhörer in die Kirchenkasse fließe. Man hat uns auch an der theologischen Fakultät Philosophie studieren lassen. Die Geschichte der Aufklärung gehörte zur Kirchengeschichte. Warum sind uns da die Augen noch nicht aufgegangen? Nur weil unsere Lehrer sie unter dem negativen Vorzeichen von Entgleisungen behandelten? Warum waren wir uns in der Bekennenden Kirche so sicher, von der Wahrheit getragen zu sein? Karl Barth hat seine riesige Dogmatik darauf gegründet. Schneider hat sich dafür zu Tode prügeln lassen. Ist das ein Geheimnis unserer Selbstbestimmung, die entweder immer offen bleiben will für neue Erkenntnisse oder sich festlegt bis zum Gehtnichtmehr?
 

09 - 10 - 96

Hat das auch mit dem Beruf zu tun? Was wäre geworden, wenn ich schon früher die ganzen Zusammenhänge gesehen hätte? Ist es ein Glücksfall, dass ich erst jetzt, im Ruhestand, die ganze Wahrheit zu Gesicht bekam? Mit der frühen Erkenntnis, in den Schöpfungsgeschichten den Glauben an die Landnahme Israels als Liebeswerben Gottes wieder zu finden, habe ich nie Schwierigkeiten gehabt. In meinem Gleichnis vom Hochzeitsabend eines jungen Ehepaares fand ich alles, was ich über die Liebe Gottes zu sagen hatte.
„Am Abend der Hochzeit, als alle Gäste gegangen sind und das junge Paar alleine ist, da wendet sich der Ehemann in höchster Konzentration seiner jungen Frau zu und eröffnet ihr, dass er ihr nun sein schönstes und wertvollstes Geschenk für die ganze Ehe machen wolle. In feierlicher Form überreicht er ihr einen Schlüssel, den Haustürschlüssel. Die junge Frau kann sich keinen Reim darauf machen, was daran so Besonderes sein soll und nimmt ihn mit einiger Verwunderung. Im Laufe der Zeit entdeckt sie bei ihren Gängen in die Stadt auch noch andere Männer, die ihr schöne Augen machen. So kommt sie eines Tages nicht mehr heim. Jahre vergehen. Dann trifft es sich, dass die beiden, sich begegnen - ganz zufällig.. Sie ist ziemlich heruntergekommen. Das sieht der Mann auf den ersten Blick. Dennoch bittet er sie zu einem kurzen Gespräch ins nächste Cafe. Nach einigen belanglosen Worten, kommt er zur Sache und fragt sie: „Warum hast Du mich verlassen?“ Hatte sie auf diese Frage gewartet? Denn jetzt bricht es wie Groll aus ihr heraus: „Du! Du alleine bist schuld daran! Hättest Du mir den Haustürschlüssel nicht gegeben und mich vor diesen Erfahrungen bewahrt, wäre noch alles gut und schön.“ Traurig sieht der Mann die Frau an. Dann sagt er: „Tant pis“, legt Geld auf den Tisch und geht.
Die Geschichte könnte aber auch ganz anders enden:
Auf seine Frage schweigt sie zunächst betroffen. Dann aber gesteht sie zögernd und fast unter Tränen: Sie habe in der Vergangenheit den Wert des Schlüssels begriffen und trage ihn ständig in ihrer Tasche bei sich als Erinnerung an ein verscherztes Glück. „Verscherzt“? fragt der Mann. „Komm heim! Du musst dich erst einmal umziehen und schön machen!“
 

13 - 10 - 96

 Meine Kräfte lassen merklich nach. Ich habe auch nicht mehr den Mut, noch jemand anzuschreiben. Selbst die Kraft fehlt mir, das „Seriendruckprogramm“ zu erlernen. Ich frage mich, was der Weisheit Schluss meines Lebens ist? Mit dem Jahwisten und mit Jesus statt Gottesdienst, Lebensdienst getrieben zu haben?. Luther hat mir nichts mehr zu sagen. Aber sein Wort, dass der oder das unser Gott sei, auf den oder das wir unser ganzes Vertrauen setzen, ist so sicher wie die Sonne, der wir das Leben verdanken. Auch er stand mit beiden Füßen auf dieser Erde und verließ sich darauf. Auch er träumte von einem Gott und rechnete doch in Wahrheit mit Sonnenauf- und untergang. Er nahm sich selbst nicht beim Wort. So konnte sein letztes Wort auch nur eine devote Verneigung und Huldigung vor seinem Gott sein: „Wir sind Bettler“. Armer Blinder!
Wir sind gewohnt, das Leben als Kampf zu verstehen, nicht als ein wunderbares Geschenk. Ist das notwendig, dass der Konkurrenzkampf tragendes Moment unseres Daseins ist? Gewiß, für Nahrung, Kleidung und für ein Dach über dem Kopf zu sorgen mag man als einen ständigen Kampf ums Dasein verstehen. Aber andererseits findet sich unsereiner normalerweise an einem Ort, an dem ihm bereits ein fester Boden unter den Füßen geschenkt ist, dazu die Luft zum Atmen und vieles mehr, das er sich selber nicht mehr erarbeiten muss. So gesehen, ist er mit seinem „Kampf ums Dasein“ Mitarbeiter in einem ...
 

29 - 10 - 96

... größeren, hilfreichen Zusammenhang. Er kämpft nicht auf verlorenem Posten. Im Gegenteil , denn das Leben ist auf dem Vormarsch. Im Sonnenlicht hat Leben schon Jahrmillionen hinter sich in all den Gefährdungen eines explodierenden Weltalls. Natürlich kann diese Zuverlässigkeit von heut auf morgen zu Ende sein. Plündern wir unter diesem Aspekt die Vorräte unserer Erde? Ich merke erst jetzt, wie schwer es ist, mit einem umfassenden und in die Tiefe gehenden Wissen um unser Dasein leben zu müssen. Auch da endet mein Nachsinnen bei der Hoffnung, die damit rechnet, dass die Zuverlässigkeit des Sonnensystems auch weiterhin noch lange anhalten möge. Immerhin, diese Zuverlässigkeit trägt uns und unsere Tätigkeit sogar, wenn sie unserem Lebensgrund abträglich sein sollte. Ist uns das bewußt?
Muss uns das bewußt sein? Es könnte doch hilfreich sein, zu leben im Willen, dieser Zuverlässigkeit zur Hand zu gehen. Es ist also eine Willensentscheidung. Wir haben zu lange in der Erwartung eines Heiligen Geistes gelebt. Auch das geht auf das Konto des „Gottesstaates“.
 

30 - 10 - 96

Mit unserer Zeitung kam heute morgen wieder eine Menge Regenbogen -Reklame. Diese Überschwemmung auch im Fernsehen und in der Regenbogenpresse hat doch ihre psychische Ursache darin, dass der sogen. Konkurrenzkampf als etwas Lebensnotwendiges und Natürliches von unsereer Gesellschaft uns in Fleisch und Blut geimpft wurde. Natürlich ist dieser Kampf.  Das beweist schon ein Blick auf Wald, Feld und Wiese und in das Tierleben. Die Bibel hat dafür in der Geschichte von Kain und Abel ein Exempel statuiert. Sie hat aber auch zugleich die Frage gestellt, ob dieser Kampf auch bei Menschen ein Grundgesetz des Zusammenlebens sein müsse? Die frühisraelitischen Denker haben dies zu Ende gedacht und im Konkurrenzdenken den Willen zum Mord aufgedeckt. Natürlich, im wahrsten Sinne des Wortes, mag es sein. Aber menschlich?
 

04 - 11 - 96

Gottesstaat - Staatskirche - Kirchenstaat - Die Kämpfe zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter um die Vorherrschaft. Die hierarchische Struktur an den Universitäten, an den Banken, in den Schulen und Fabriken und in den Elternhäusern. Der Herrgott hat sich vermöge seiner zwei Gesichter, bei den Menschen durchgesetzt. Wie anders hätte es sein können, wenn nicht die herrschaftliche Sicht Gottes das Muster für das Zusammenleben der Menschen geworden wäre? Also nicht von Oben nach Unten, hier Gebende und dort Bittende, sonder bedingungslos Gebende, wie rechte Eltern, die ihre Kinder lieben und mit dem Geschenk des Lebens nicht einer Bitte des Kindes nachkommen, auch nicht, wenn sie ihr Kind mit ihrem Wissen ins Leben einführen. Unsere Kindergärten und Schulen sind im Grunde die Fortsetzung des Elternhauses. Da geht es also und die Universitäten nähern sich dem an. Aber in der Regel beginnt für unsere Kinder nach der Ausbildung das Antichambrieren und das Aussortierenwerden nach Fähigkeit und Leistung. Hier hört offenbar der Spaß auf, den Menschen im Geben zu tragen. Nun muss er selber für sein Leben sorgen und seinen Platz in der Gesellschaft suchen, an dem er aus eigener Kraft leben kann. Wie wird er das tun im Blick auf den Umgang mit dem Leben überhaupt und mit Mensch und Tier ins Besondere?
 

05 - 11 - 96

Ich bin mit meinem Philosophieren am Ende. Wozu das alles? Mit wem rede ich eigentlich in diesem Tagebuch? Ist das die Folge davon, dass ich hier mit niemandem über das, was mich so brennend beschäftigt, reden kann? Ist der Computer mein geduldiger Zuhörer, bei dem ich mich ausweinen und vor allem aussprechen kann? Dabei lass ich das Weinen und die Depressionen garnicht mal raus, aus Angst, es könne doch zur Unzeit gelesen werden. Ich denke oft an Paul Gerhard, der seine schönen Lieder in Sorge und Leid gedichtet hat.
Und an meinen Hund, der mir, um mich nicht zu ängstigen, bis zuletzt verborgen hat, wie krank er war.
Gestern habe ich mich verbiestert als ich mit dem Gottesstaat begann und schließlich versuchte, mir vorzustellen wie ein Gemeinwesen wohl aussehen würde, in dem es kein Oben und Unten, keine Unterscheidung der Menschen in brauchbare und unbrauchbare Menschen gäbe. Worum es mir geht, ist die auffällige Erscheinung, wie Kirchen den Staat in ihre Gewalt bringen oder ihn in ihr behalten möchten. Deutlich im Islam, aber auch in den christlichen Kirchen. Ich frage nach den Ursachen. Ist es der Traum vom Reich Gottes auf Erden, der das so penetrant durch die jüdisch-christliche Geschichte bis in unsere Zeit getragen hat? Im Streit um die Kruzifixe in den Schulen denken die Kirchen, Gott solle mundtot gemacht werden und gehen darum auf die Barrikaden. Oft ist aber in den Schulen nur noch dieses Stück Holz von Gott da. Ist er nicht in den Herzen der Lehrer, dann ist er auch nicht in der Schule. Man hat den Eindruck, das Kruzifix sei zum Geßlerhut geworden.
 


Zum Seitenanfang