Otto Wilhelmy

Bemerkungen zu Franz Kafkas "Schloss" aus religionsgeschichtlicher Sicht (1998)

   

19 - 02  bis 11 - 03 - 1998

Der Gedankengang des Romans ist folgender: Der Mensch findet sich bei seinem Eintritt ins Leben vor einem riesigen Rätsel, das dann in kleinster Kleinarbeit gelöst werden will. Die Landschaft und das Dorf liegen unter einer dicken Schneedecke. Es scheint so, als ob das Ganze von einem Zentrum aus geordnet und regiert wird: Vom Schloss über dem Dorf. Der Mensch versteht sich in dieser Situation als aufgefordert, ein Rätsel nach dem anderen zu lösen als Landvermesser. Dazu glaubt Kafka als Jude den Auftraggeber im Schloss. So sucht er zunächst ins Schloss zu gelangen, zumal sich herausstellt, dass es dahin Verbindungen gibt, die über dies den vermeintlichen Auftrag bestätigen. In der Brückengaststätte, seiner ersten Unterkunft im Dorf und für den Verfasser die urchristliche Gemeinde (diese Wirtin ist die erste Geliebte Klamms und Frieda, ihre Tochter, die spätere) trifft er auf Barnabas (der Gefährte des Paulus, von dem dieser sich in Antiochien trennt), den Boten des Schlosses, mit einem Brief an ihn, den Landvermesser, zwielichtigen Inhaltes, insofern, als ihm völlige Freiheit und völlige Weisungsgebundenheit bei seiner Arbeit offeriert wird. Als der Bote das Gasthaus verlässt, hängt sich K. an ihn, in der berechtigten Hoffnung, mit ihm in das Schloss zu gelangen. Aber er kommt so nur ins Haus und zur Familie des Boten, diese sind aber nur im Dorf und nicht im Schloss. Der Erzähler deutet damit an, dass er Spinoza kennt und sich ihm anschließt, wenn dieser behauptet, das ganze Alte Testament sei menschliches Gedankengut und nicht transzendente Offenbarung. Damit sind wir im Hause des Barnabas zugleich in Israel und im Alte Testament und bei dem diesem Hause im Dorf anhängenden schlechten Ruf (Antijudaismus), den der Erzähler ihm durchgängig nachsagt. Von hier führt Olga, eine der Schwestern des Barnabas, unseren Helden ins „Herrenhaus“, angeblich eine Dependance des Schlosses. Für den Erzähler ist es das Christentum pauschal, verengt im trinitarischen Dogma( Klamm, nur durch ein Guckloch sichtbar, im Sessel sitzend, immer schlafend), für solche, die es hinterfragen wollen, wie K. unerreichbar.
Die Wirtin des Herrenhauses ist die Institution Kirche. Frieda, die Geliebte Klamms und Pepi, das Zimmermädchen, verkörpern für den Erzähler die christliche, katholische (Frieda) und evangelische (Pepi) Theologie, beide trinitarisch. In der Hoffnung über diese zu Klamm und ins Schloss zu gelangen, spannt unser Held diesem Klamm zunächst Frieda aus. Das Verlöbnis zwischen trinitarischer Theologie und Philosophie ist perfekt.
Aber der Weg ins Schloss ist nicht gewonnen. Im Gegenteil, die Philosophie erfährt, dass sie gar nicht benötigt wird und besten Falls nur als Hausmeister einer Schule zu gebrauchen ist.. Sie muss nun der Kirche niedrigsten und unbedeutendsten Dienste leisten, immer als lästig und unerwünscht behandelt. Der Erzähler denkt an die lange Zeit zwischen Paulus und Luther.
Hier sei die Deutung der beiden komischen Gehilfen, Artur und Jeremias, eingefügt. Sie haben etwas an sich, das sie tatsächlich in die Nähe unseres Landvermessers rückt, denn auch sie werden einmal als solche bezeichnet. Später erweisen sie sich aber auch als im Dienste des Schlosses und Klamms stehend. Von einem Mann namens „Galater“, einem Vertreter Klamms geschickt, wird ihre Aufgabe wie folgt umrissen: „Er, K. ist jetzt ins Dorf gekommen und gleich ist ihm das ein großes Ereignis, während es doch in Wirklichkeit gar nichts ist. Das sollt ihr ihm beibringen.“
Hier scheint Kafka an Paulus zu denken, der seine Christologie mit Hilfe der platonischen Ideenlehre geformt hat und sagen kann: „Wir sehen nun nicht mehr auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare; denn das Sichtbare ist zeitlich, aber das Unsichtbare ist ewig.“ Dann wären die beiden Gehilfen Petrus und Paulus, als Juden ins Lager K.s, als Christen ins Lager Klamms gehörig und des Letzteren wegen von K.als lästig und unerwünscht befunden und behandelt. Artur, alias Paulus, dieser Behandlung überdrüssig, verlässt seinen Posten und kehrt ins Schloss zurück, um sich dort zu beschweren. Das Verhältnis der katholischen Kirche zu Paulus war von Anfang deutlich weniger grundlegend als das zu Petrus. Darum bleibt Jeremias, alias Petrus, in der Nähe K.s und gewinnt schließlich Frieda zur Freundin. So sind sie am Ende vereinigt: Klamm, Petrus und Frieda in der römisch katholischen Kirche.
Als das Verlöbnis zwischen Frieda und unserem K. sich als nicht hilfreich erweist für sein Verlangen, Klamm zu stellen und so ins Schloss zu kommen, nimmt K. erneut die Verbindung zu Barnabas und seinen Schwestern auf, um auf diesem Wege noch einmal die Verbindung zum Schloss zu suchen. Hier erfährt er die Ursache für den schlechten Ruf der Familie im Dorf. Amalia hat in einem Brief eine unmissverständlich beleidigende Aufforderung bekommen, zu dem Schlossbeamten Sortini ins Herrenhaus - nicht ins Schloss - zu kommen. Sie hat aber den Brief zerrissen. Seither ist die Familie im Dorf geächtet. Damit bringt der Verfasser die Ursache für den Widerwillen der Dorfbewohner gegen das Haus und die Familie des Barnabas zur Sprache. Das Beleidigende könnte der Verfasser in der Einladung sehen, Jesu als Messias an zu erkennen. Dann wäre das Zerreißen der Einladung die Kreuzigung Jesu durch die Juden.. Das entspricht der Darstellung Olgas, die in der Berufung Friedas als Geliebte Klamms den gleichen Vorgang sieht, wie das Ansinnen Sortinis an Amalia. Es sind in beiden Fällen Juden, die das oder die Ansinnen des Herrenhauses, in Jesus den Messias zu sehen, annehmen (Frieda, die christliche Theologie)bzw. ablehnen (Amalia, Israel).
Der Seitensprung Ks ist für den Verfasser die Reformation. Die Bibel, insbesondere aber auch das Alte Testasmenmt, werden übersetzt. Griechische und hebräische Urtexte beseitigen das Monopol der Vulgata. Besonders Luther ist neben dem Neuen Testament auch im Alten Testament zu Hause. Das trinitarische Dogma bleibt hier wie dort. So kann Pepi vorübergehend ein Ersatz Friedas bei Klamm werden.
Frieda erfährt von diesem Besuch im barnabasschen Hause und ist zutiefst verletzt. "„Es wird keine Hochzeit geben ,“ sagte Frieda. „Weil ich untreu war?“ fragte K.. Frieda nickt." Die Verlobung scheitert nach Kafka daran, dass die christliche Theologie katholischer Prägung im Grunde ihres Herzens an ihrem ersten Liebhaber hängt und nichts mit der Reformation, trotz ihrer trinitarischen Verwandtschaft, und schon gar nicht mit Israel, etwas zu tun haben will. Sie will nicht Ks „Besitz“ sein und ihm folgen, wohin er geht. Sie beendet die Verlobung. Die Theologie katholischer Prägung trennt sich von Luther und nicht umgekehrt.
Da bietet sich K. in Gestalt der Pepi, der auch trinitarischen reformatorischen Theologie und Friedas Ersatz bei Klamm, eine neue Möglichkeit an zu Klamm und ins Schloss zu kommen. Pepi klärt K. darüber auf, dass die Affäre mit Frieda eine „Falle“, ein einziger „Betrug“ gewesen sei. Frieda habe mit dieser Mésalliance mit einem Nichtsnutz lediglich einen Skandal machen wollen, durch den sie ihr im Laufe der Zeit lädiertes Ansehen als Geliebte Klamms wieder zu Ehren bringen wollte. Der Verfasser deutet damit Luthers Kontroverse mit der katholischen Kirche an, in der er das „0hne des Gesetzes Werk“ des Paukus wieder zur Geltung bringt. Dem widersetzt sich K. Er klagt sich an, „Sie vernachlässigt zu haben“ und sie, wenn sie zurückkäme, wieder vernachlässigen zu müssen, wegen der Wanderungen, die er von dieser Basis aus machen könne und machen müsse. Er fühlt sich von Frieda nicht betrogen und mit solchen, die den Vorgang so verstehen, will er nichts zu tun haben. Der Verfasser, selber Jude, ist auch kein Freund des Paulus in dessen Auffassung vom Gesetz. „Da sie bei mir war, bin ich immer fort auf den von Dir (Pepi) verlachten Wanderungen gewesen, jetzt da sie weg ist , bin ich fast beschäftigungslos, bin müde, habe Verlangen nach immer vollständigerer Beschäftigungslosigkeit“. Die Einladung Pepis zu sich und ihren beiden aufgeklärten Freundinnen (Feuerbach, D.F.Strauß und Nietzsche) zu ziehen, lehnt er ab. Das ist auch das Ende der Liaison mit Pepi. Offenbar meint Kafka, ohne die Theologie als Lehre von der Theokratie sei die Philosophie arbeitslos. Ohne Gott als Gesetzgeber keine Theologie und keine Philosophie
Die Vorgänge im „Herrenhaus“, K.s Eindringen in den Gang mit den vielen Zimmern der Sekretäre, vollzieht sich im Neuen Testament. Die Sekretäre in ihren Zimmern sind die Verfasser der einzelnen Bücher des Neuen Testaments.
„Friedrich“, im Unterschied zu „Frieda“, hier erstmalig und einmalig genannt, ist für K. so etwas wie der Schlossherr, denn, so Bürgel: „ich bin die stärkste Verbindung“ - „ich bilde die Verbindung zwischen seinen Dorf- und Schlosssekretären“. Soll Bürgel für den Verfasser der Christus sein, wenn Klamm das trinitarische Dogma verkörpert? K., der Jude kämpft im Traum mit diesem seinem Bettgefährten und feiert einen bleibenden Sieg über ihn: "„Ein Sekretär, nackt, sehr ähnlich der Statue eines griechischen Gottes“. „Dieser griechische Gott pipste wie ein Mädchen, das gekitzelt wird.“ „Trotzdem streifte ihn beim Anblick der entblösten Brust Bürgels vom Traum her der Gedanke: „Hier hast du ja deinen griechischen Gott“." Man spürt der Einordnung des Christus und diesen Sätzen die Geringschätzung an, mit der der Verfasser diese Gestalt bedient.
K.s unfreiwilliger Aufenthalt im Gang der neutestamentlichen Bücher macht ihn zum kritischen Beobachter der Vorgänge, die sich da in einer verwirrenden und jeder Ordnung entbehrenden Weise abspielen. Gemeint ist wohl die unermessliche theologische Arbeit im Für und Wider der Exegese neutestamentlicher Bücher bei den Theologieprofessoren und Pfarren, vorwiegend in nächtlichen Stunden erbracht. Was hat er, K. da zu suchen, wo die Laien ausquartiert sind und kritische Beobachter schon gar nicht erwünscht? Darum schrillen am Ende die Alarmglocken und Wirt und Wirtin erscheinen, um K. aus dem Gang des strikten Unkontrolliertseins heraus zu holen.
Seine letzte Aufmerksamkeit richtet K. auf die institutionelle Kirche in Gestalt der „Wirtin“. Es geht um ihre zahlreichen und auffälligen Kleider. Die Wirtin fragt: "„Wie sind also die Kleider?“„Du willst es wissen. Nun sie sind aus gutem Material, recht kostbar, aber sie sind veraltet, überladen, oft überarbeitet, abgenützt und passen weder für Deine Jahre noch für Deine Gestalt, noch Deine Stellung.“" Damit distanziert er sich, wie Hölderlin, Kierkegaard und Dostojewski, von der jeweils herrschenden Institution Kirche.
K. findet sein letztes Unterkommen bei Gerstäcker, dem Kutscher des Herrenhofes: „Er brauche K. zur Aushilfe bei den Pferden“.
Damit ist der Roman aber an sein Ende gekommen. Ob es uns gefällt oder nicht gefällt, denn das Rätsel unseres Daseins ist auch heute noch nicht philosophisch gelöst und schon gar nicht theologisch. Die Weisheit der frühisraelitischen Denker (wie ich sie mittlerweile erkannt zu haben glaube), die sich nämlich an das Sichtbare hielten, war Kafka weder direkt in der ihm geläufigen Lesart des Alten Testaments, noch indirekt über die christlichen Kirchen und ihren Glauben zu Gesicht gekommen.
 
Mein Nachdenken über Kafkas „Schloss“ hat sich noch einmal mit der Gestalt des Klamm im Herrenhaus beschäftigt. Ich bin mir sicher, dass er damit nicht den Christus meinen kann. Klamm, „Partnachklamm“ heißt Engstelle. Wen könnte Kafka damit gemeint haben? Durch ein Guckloch zu sehen: Ein Mensch im Sessel sitzend, schlafend. In den Seitentaschen seiner Kutsche hat er Schnapsflaschen, ein  Mensch also, der es sich offensichtlich gut gehen lässt, auch mit Geliebten, vor allem aber einer, der sich weigert, dem zu begegnen, der es genau wissen will, was hinter ihm steckt, der dem Zweifel an seiner Zuständigkeit als Schlüsselperson im Herrenhaus keine Gelegenheit gibt, ihn zur Rede zu stellen. Es könnte das trinitarische Dogma sein. Ein Engpass, durch den keiner gelassen wird, um nachzusehen, was hinter der Leinwand steckt. Ich bin, der ich bin! Basda!
 

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