Otto Wilhelmy

Erinnerungen 1910 - 1945 (1999)

20 - 03 - 1999
In meinem Tagebuch regístriere ich in der letzten Zeit fast nichts mehr von Bedeutung für meine Arbeit am hist. Jesus. Dennoch zieht es mich an den Computer und dazu, etwas zu schreiben. So mache ich mich daran einfach aus meinen Erinnerungen dies oder jenes fest zu halten.
Barnstorf ein „Flecken“ im Landkreis Diepholz ist mein Geburtsort. Meine Eltern, der Vater gelernter Zimmermann und meine Mutter „in Stellung“ bei einem Gemischtwarenhändler des Dorfes, heirateten 1910. Sie waren beide nicht in Barnstorf geboren. Der Vater 1800 in Rüssen einem wunderschönen, weltfernen Winkel bei Goldenstett im Hannoverschen. Der Großvater war Häusler und Müller auf der Essmühle, einem Paradies mit Mühlteich und erstem kleinem turbinenbetriebenem und kohlebeheiztem Elektrizitätswerk. für die nähere Umgebung. Uralt der Besitz dieser Mühle. Ihr Besitzer trug den Namen Essmüller. Rüssen ein Zauberwort meiner Kindheit, denn meines Vaters Bruder hatte die Stelle meines Großvaters als Müller an dieser Mühle übernommen und meine Mutter versäumte keine Gelegenheit  mit mir in Rüssen einen Besuch zu machen. Dabei saß ich in einem Kindersitz, der oberhalb der Vorderrades ihres Fahrrades am Lenker befestigt war. Gruselig der Wildschweine wegen war dann immer die Fahrt durch die Markenau, einem Waldgebiet zwischen Aldorf und Rüssen. Nach dem ersten Weltkrieg habe ich der Gesundheit wegen dort Wochen verbracht und mit anderen gesundheitlich geschädigten Kindern des Ruhrgebietes die menschenarme Gegend mit dem Jagdhund des Mühlenbesitzer durchstreift. Seine Enten, von denen er nicht wusste wie viele er davon besaß, machten sich davon bis zur Hunte und über sie hinaus ins gegenüber liegende Land. Wir haben versucht sie zurück zu holen. Seine zahllosen Hühner hatten überall ihre Nester, von denen niemand wusste. Wir fanden eins mit 70 Eiern darin. Damals hatte schon mein Onkel Fritz, der Bruder meines Vaters, als Müller die Nachfolge meines Großvaters angetreten, so dass diese Verbindung noch lange Bestand hatte.
Meine Mutter, ja meine Mutter, was war sie für eine Frau? Von meinem Vater habe ich eine ziemlich genaue Vorstellung. Aber von meiner Mutter zu meiner eigenen Beschämung keine. Später, viel später als sie mit 90 Jahren bei uns im Altersheim in Leverkusen lebte, sagte man ihr nach sie sei eine Dame gewesen.
In Wehrbleck 1882 geboren, einem kleinen Ort in der Nähe von Sulingen ( nicht Solingen), musste sie schon gleich nach ihrer Konfirmation in Barnstorf „in Stellung“ gehen. Dort lernten sich die beiden kennen und dort bauten sie sich ihr Haus. Es war damals das letzte an der Bremer Straße. Das Bauholz wuchs in der Umgebung des Hauses  Die Furen nannten die Barnstorfer dies große Gehölz. Wahrscheinlich nach dem Baumbestand aus lauter Föhren. Dort wurde ich 1911 geboren, im „schönsten Sommer des Jahrhunderts“(Stijn Streuvels). Während mein Vater seinem Beruf nachging, betrieb meine Mutter eine Schweinemästerei mit zeitweilig 150 Schweinen im Stall. Die drei ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich hier, zeitweilig von einem Kindermädchen betreut oder einem Nachbarbuben, dem es Spaß machte, mich in einem kleinen Leiterwägelchen, von unserem Hund gezogen, durch die Gegend zu kutschieren Mein Vater war zu der Zeit schon eines Herzfehlers wegen aus dem Militärdienst mit einem Zivilversorgungsschein entlassen. Mit diesem konnte er sich um eine Beamtenstelle bewerben und tat es. Er wurde als Kasernenwärter nach Wesel am Niederrhein berufen. 1914 noch vor Kriegsbeginn wurde das Haus verkauft und der Umzug getätigt. Er wurde sogleich als Landsturmmann eingezogen und verbrachte den Krieg im belgischen Namur. Meine Mutter und ich bezogen unsere erste Wohnung in Wesel auf dem „Entenmarkt“ Nr.17 bei dem Stahlwaren -händler Friedrich Schaaf im ersten Stock. Mein erster denkwürdiger Ausspruch in der Küche dieser Familie soll gewesen sein: „Dou Mudder! Dei hebt jüß son Kaffekätel as wie!“ Meine Muttersprache war das Niederdeutsche. Für die Menschen aus Solingen-Ohlis eine Fremdsprache. Wesel war damals noch eine preußische Festung und Garnisonstadt. Forts, Kasernen, Kasematten, Wallgräben und Glacis hatten das Wohngebiet im Griff. Das „Berliner Tor“ war und ist noch heute das Denkmal an díese Zeit, als alle Bauten außerhalb der Umwallung in Holz gebaut wurden, um jederzeit abgebrannt zu werden, wenn Gefahr im Verzug war. So habe ich als Kind und noch bis 1945, dem Ende des zweiten Weltkrieges den Bahnhof als Holzgebäude erlebt. Der Rhein als stärkstes Bollwerk gegen den Westen erhielt erst während des ersten Weltkrieges die „Rheinbabenbrücke“ für Fußgänger und Fahrzeuge . Bis dahin vollzog sich der Übergang über den Strom auf einer Potonbrücke, deren Mittelteil ausgefahren werden musste, wenn ein Dampfer mit Schleppkähnen Durchlass verlangte. Ich selber habe es erlebt und auch heute noch deutlich in der Erinnerung. Wohl auch deshalb, weil die Bohlen unter der Last der darüber fahrender Wagen sich bogen und ich einmal meinen Fuß nahezu eingeklemmt hätte. Die Eisenbahnbrücke war wohl schon gebaut. Ist mir aber nicht mehr im Gedächtnis.
Das Kriegsende 1918 erlebte ich mit meiner Mutter in einer anderen Wohnung auf dem Entenmarkt. Wir waren in die Gaststätte 'Breuer' umgezogen. Über den nahen Hansaring vollzog sich tagelang der traurige Rückzug unserer Soldaten. Zu ihrer Ermunterung verfertigte ich an Holzstäbchen schwarz-weiß-rote Papierfähnchen. Das Schwarz war leider mehr blau wegen der Tinte, die dafür zur Hand war. Zu der Zeit muss auch mein Vater heimgekommen sein. In der Etappe, in Namur als Landsturmmann hatte er den Krieg ungefährdet und in der Gesellschaft harter und trinkfester Kameraden überlebt. Die Entfremdung von seinem Kind machte ihn mir auf Jahre hinaus zum ärgsten Feind meiner Jugend.
Der preußische Unteroffizier als Vater kannte in der Erziehung nur einen Grundsatz: Aufs Wort gehorchen!
Sein Arbeitsplatz wurde die Kaserne an der Esplanade. Dort hatte ich Auslauf in den leeren Räumen und fand in Ecken und Schränken vom Stahlhelm bis hin zur scharfen Munition alles, was die Soldaten hatten liegen lassen. Im ersten Schuljahr setzte ich während des Unterrichtes ahnungslos und zum Entsetzen meiner Lehrerin einen Ladestreifen mit fünf scharfen Gewehrpatronen vergnüglich und stolz über solchen Besitz vor mir auf die Tischplatte meiner Bank.
Meine Eltern hatten durch den Verkauf des Hauses in Barnstorf und durch ihr Erspartes ein kleines Kapital von 9000 Goldmark angesammelt. Mutter sagte, sie habe das Angesparte mit Goldstücken zur Sparkasse gebracht. Damit kauften sie noch ehe die Inflation einsetzen konnte in Wesel das Haus Schepersweg 8/5, etwas außerhalb der Stadt gelegen, die hässliche Hälfte eines als Doppelhaus geplanten, aber nicht vollendeten Anwesens. In ihm war Wohnraum für zwei Familien, dazu ein großer Garten und ein zweigeteiltes Stallgebäude. Gasbeleuchtung wie in der Stadt oder elektrisches Licht gab es am Schepersweg noch nicht. Auch Wasser musste noch an der Pumpe im Keller geholt werden.
8 jährig erlebte ich den Einzug und als 22jähriger verließ ich dies Haus um dann nur noch sporadisch dahin zurückzukehren. Ich muss ein sehr lebhaftes Kind gewesen sein. Meine Mutter erzählte mir, im ersten Schuljahr habe die Lehrerin mich mit meinen Schürzenbändeln an der Rückenlehne der Bank festbinden müssen Gleich zu Anfang im ersten Jahre unseres Umzugs aus der Stadt aufs Land bereitete ich meinen Eltern einen bösen Rückschlag in ihrem Glück über dies eigene Heim. Es war zur Gewohnheit geworden, dass ich morgens in den Ferien die Milch vom Milchhändler holen durfte, der am Anfang des Schepersweges seinen Verkauf betrieb, während wir an seinem Ende wohnten. Dieser Weg verlief zur Rechten und zur Linken entlang von Äckern und den wenigen Bauernhöfen, zu denen diese Äcker gehörten. Der Bauer Endemann hatte seine Roggenernte noch ungedroschen in einer haushohen Miete in der Nähe des Weges aufgestapelt. Sage und schreibe 1000 Garben. Es hatte an dem Morgen getaut und ein am Wegesrand liegender Fetzen Papier war feucht.
Ich aber hatte Streichhölzer in der Tasche und versucht dieses Papier anzuzünden.
Aber ohne Erfolg. Was nun folgte, brauche ich gar nicht zu erzählen. Die Strohmiete, wenige Schritte vom Weg entfernt, erwies sich als dankbareres Objekt. Sie brannte jedenfalls, und wie sie brannte!. Die Bäuerin, die zufällig dem Spiel aus einiger Entfernung zugesehen hatte, versuchte noch mit einem Spaten den Brand zu löschen. Aber vergeblich. Ich lief in höchster Angst mit meiner Milchkanne zum Milchhändler, während die Garben mit Inhalt bis auf den letzten Halm verkohlten. Aber auf dem Rückweg kam mir dann schon meine Mutter in höchster Verzweifelung entgegen. Von da an war ich als ein Zugezogener gemeingefährlich. Meines Vaters Reaktion mir gegenüber weiß ich nicht mehr. Er entschädigte den Bauern restlos und das wahrscheinlich nur unter schweren Opfern möglich, in dieser Zeit und nach einem solchen Neuanfang. Mit dem Umzug war auch ein Schulwechsel erforderlich geworden. Von der Stadtschule an der Böhlstraße mit ihren 8 Klassen und Lehrerinnen kam ich nun in eine einklassige Schule zum Lehrer Biermann, einem älteren Herrn, der Ungezogenheiten noch mit Stockschlägen ahndete. Hier saßen immer mehrere Jahrgänge zugleich hinter ihren Bänken, sodass ein Teil der anwesenden Schüler mit halbem Ohr auch noch den Unterricht der älteren Schüler mitbekam. Die Landkarten waren hinter dem erhöhten Pult des Lehrers so an der Decke angebracht, so dass sie je nach Bedarf an einem Seil herabgelassen und wieder aufgerollt werden konnten. Ich muss beim Erdkundeunterricht der höheren Klassen als ungebetener Zuhörer und Zuschauer dabei so viel profitiert haben, dass ich in diesem Fach auch späterhin wie ein Fisch im Wasser schwamm.
Nach der vierten Klasse, sollte ich aufs staatliche Gymnasium, einer reinen Jungenschule in Wesel. Bei der Rechtschreibung haperte es. Lehrer Biermann sollte mir auf die Sprünge helfen und tat es in Nachhilfestunden. Aber ich blieb mit der Rechtschreibung auf dem Kriegsfuß. Als Erst- oder Zweitklässler hatte die Lehrerin uns eingeprägt, alles Unsichtbare würde klein geschrieben. Als ich dann in einem Diktat „seele“ schrieb, musste ich die erste Erfahrung machen, dass auf Regeln kein Verlass war. Ich weiß nicht mehr, ob ich eine Aufnahmeprüfung für das Gymnasium machen musste. Ich wurde aufgenommen und damit begann eine Leidenszeit, die mir im nachhinein bis zum Eintritt in die Oberstufe, also die letzten drei Jahre vor dem Abitur, als eine einzige Folter eines Kindes durch Überforderung erscheint. Dazu kam, dass mein Vater unter dem Druck der allgemeinen Not der Nachkriegsjahre und der besonderen eines Sohnes, der ihn finanziell fast um den Besitz des Hauses gebracht hatte, zu trinken begann. Wenn er abends so gegen sieben Uhr nicht nach Hause kam, dann bangte meiner Mutter und mir das Herz. Ich machte mich dann auf den Weg, die in Frage kommenden Gaststätten aufzusuchen und wenn ich ihn fand, ihn zu bitten mit mir heim zu kommen. Er hatte einen schlechten Rausch und hat meine Mutter und mich oft, sehr oft in größte innere Not versetzt. Auch sonst zitterten wir beide vor ihm. Den geringsten Anlass nutzte er dazu, wochenlang kein Wort mit uns zu reden. War ich der Anlass dazu gewesen und ich war es fast immer, bat mich meine Mutter, zu ihm zu gehen und um Vergebung zu bitten. Solche Gänge waren für mich so entwürdigend, dass ich alt werden musste bis ich meine natürliche Würde wieder fand und nicht immer an mir und meinem Können zuerst Zweifel hegte. Dabei war mein Vater ein frommer Mann, jedenfalls was den Gottesdienstbesuch und die üblichen christlichen Sitten betraf.. An Sonntagen, an denen es regnete und wir den weiten Wege in eine der beiden großen evangelischen Kirchen der Stadt, der Willibrordi- und der Matenakirche nicht gehen wollten, saßen wir in unserer Wohnküche bei einander und lasen eine Predigt aus einem Predigtband eines Pfarrers Diefenbach. Als dann die Kirche am Lauerhaas gebaut war, fanden wir uns regelmäßig zum Gottesdienst dort ein. Im Laufe der Jahre hat mein Vater sich geändert und noch zu meiner Zeit als Gymnasiast war er ein anderer, dem ich dankbar anrechne, dass er zäh darauf bestand, ich solle mit dem Abitur die Schule verlassen, obwohl das drei Jahre länger sein Geld kostete als üblich.
Aber auf diese Schulzeit muss ich noch einmal zurückkommen . Die Schwierigkeiten begannen  1921 in der Sexta mit dem Latein, der ersten Fremdsprache, der ich begegnete. Meine Eltern konnten mir nicht helfen. So gab es Nachhilfestunden. Doch ohne Erfolg. Eine Klassenarbeit nach der anderen hatte mindestens eine 4 damals ein „mangelhaft“. Da ich in allen anderen Fächern recht gut abschnitt, verstand mein Vater die Welt nicht mehr und lastete mir dieses Versagen als Faulheit an und machte jedes Mal Ärger. Dennoch wurde ich in die Quinta versetzt und durfte mir eine neue farbige Mütze kaufen. An den Mützen konnte man den Gymnasiasten erkennen und an den Farben, welcher Klasse er angehörte. Die Quinta brachte keine Änderung im Latein. Verzweifelt ließ ich mich dazu hinreißen einmal aus einer 4 eine 3 zu machen, ehe ich die Arbeit meinem Vater vorlegte. Das war Urkundenfälschung und das wurde von meinem Lateinlehrer entdeckt, denn ich hatte es zitternd so schlecht als möglich gemacht, vor allem die Rückverwandlung der 3 in eine 4. Der Lehrer setzte die ganze Klasse davon in Kenntnis. Er bediente sich ein Stückes Bambusrohr, mit dem er Strafen vollzog, indem er mit ihm mehrmals kräftig in eine der beiden geöffneten Handflächen schlug. Damit nicht genug. Er bestellte meinen Vater für den nächsten Tag zu sich. Ich sagte zu Hause nichts davon und ging drei Tage lang nicht in die Schule, sondern zu einer meinen Eltern und mir bekannten Familie mit der Lüge, ich hätte schulfrei. Am vierten Tag erschien ein Mitschüler bei meiner Mutter mit der Aufforderung des Lehrers, er wünsche sie noch am selben Tag zu sprechen. Als meine Mutter sich auf den Weg machte, entschloss ich mich in meiner Not, zu meinen Tanten nach Barnstorf zu fahren. Ich wusste, wo meine Mutter im Wäscheschrank ihr Geld aufbewahrte. Dort fand ich dann auch einige 1000 Mark Scheine. War es der Beginn oder das Ende der Inflation? Ich ging. getrieben von meiner Angst, zum Bahnhof löste mir eine Karte und muss wohl auch gleich einen Zug gefunden haben, der in Richtung Haltern fuhr. Es war später Nachmittag. Als der Zug in Haltern ankam, war es schon dunkel. Ich saß zwischen lauter Erwachsenen in einem der großen Abteile der vierter Klasse-Wagen. Ein Schaffner mit seiner Bauchlaterne ging von Wagen zu Wagen und von Abteil zu Abteil und fragte, ob in ihm ein Otto Wilhelmy sitze. Ich verhielt mich zunächst still. Als er dann aber ein zweites Mal durchging und mich direkt nach meinem Namen fragte, war mein Durchhaltevermögen am Ende. Man musste den Beamten eine Beschreibung von mir durchgegeben haben. An meiner schwarzen Pelzmütze war ich unschwer zu erkennen. Nun kamen die Tränen. Man nahm mich aus dem Abteil und setzte mich in das Dienstabteil eines auf der gegenüberliegenden Seite stehenden Zuges, der bereit stand nach Wesel zu fahren. Meine Mutter nahm mich in Wesel in Empfang unter den neugierigen Blicken der vielen offenbar informierten Menschen, die sich den Anblick dieses Bürschchens nicht entgehen lassen wollten. Wie alt war ich damals, 10 oder 11?
War ich so schlecht als Brandstifter, Urkundenfälscher, Dieb und Ausreißer? Mir ist davon nichts bewusst, wohl aber, dass ich damals auch an Selbstmord gedacht habe. Was trieb mich nach Barnstorf? Dort gab es Tanten, Zwillinge, Ricke und Sophie, die hatten ein Herz und unter ihre Fittiche wollte ich mich flüchten. Genau so, wie Jahre später ein Vetter von mir, der zitternd vor dem Heldentod desertiert war und auch seine Zuflucht bei diesen Tanten gesucht hat. Aber sie konnten ihm nicht helfen. Er wurde zurückgebracht und erschossen.
Wussten meine Eltern, was in mir vorging? Sahen sie nicht, dass ich meine Nägel bis aufs Blut abkaute. Doch sie sahen es. Aber mein Vater sah es als Schwäche meiner Selbstbeherrschung an und ließ mich nur seinen Widerwillen dagegen spüren, wenn ich sie ihm vorzeigen musste.
Aus der Quinta wurde ich trotz dieses Vorfalls noch in die Untertertia versetzt.
Aber nun kamen noch - so weit ich mich Erinnere - zwei Fremdsprachen dazu: Griechisch und Englisch. Das war zu viel für mich und ich blieb sitzen. Als sich dann auch bei dieser Wiederholung des Stoffs wieder eine Katastrophe anbahnte, nahm mich mein Vater von diesem staatlichen Gymnasium und schickte mich noch Vollendung des Schuljahres auf das städtische Gymnasium nach Bocholt, mit der Erlaubnis, dass ich dort die Untertertia ein drittes Mal durchlaufen sollte. So wurde ich Fahrschüler. Mit dem Fahrrad fuhr ich zunächst zu einer Gaststätte in der Nähe des Bahnhofs, stellte dort mein Rad ab und fuhr dann mit dem Zug über Blumenkamp, Haminkeln und Dingden in das westfälische und katholische Bocholt. Das Gymnasium in Mitten der Stadt hatte schon als Gebäude die Altersgrenze erreicht und ein Neubau war in Planung. Mein Einstand vollzog sich problemlos. Ein katholischer Theologe, Dr. Storm, nahm mich in seine Untertertia und seinen temperamentvollen Unterricht auf. So gelangte ich in die Obertertia und im Jahr darauf in die Untersekunda. Mein Klassenlehrer, eine Studienrat Schlichte, Junggeselle von Natur, hatte irgend ein Faible für mich und ließ mir viel durchgehen. Aber zur Versetzung in die Oberstufe konnte er mir nicht verhelfen.
Ich weiß nicht mehr woran es lag. Jedenfalls auch an meinem Latein und meinem Griechisch. Als ich meinem Vater dies mitteilen musste - ich weiß noch genau wo es war - sagte er mir nur: „Du gestaltest Dir Dein Leben selber.“ Nach dieser Wiederholung des Schuljahres gelangte ich dann endlich in die Oberstufe und in ein neues inneres Verhältnis zur Schule. Ich war inzwischen 19 Jahre alt geworden und in der Klasse der älteste Schüler. Das war mir aber nie bewusst.
Als Fahrschüler hatte ich natürlich auch deren Zeitvertreib währen der halbstündigen Bahnfahrt angenommen. Ich rauchte wie sie und spielte Skat mit ihnen und arbeitete auch noch für die Schule.
Hier muss ich noch nachtragen, dass ich 1926 in der Willibrodikirche in Wesel von unserem Bezirkspfarrer Hunger konfirmiert wurde. Zu der Zeit meist noch in kurzer Hose und Schillerkragen. Die Pubertät machte mir zu schaffen. und die Kirche machte sie zur Sünde und uns Buben ein ständig schlechtes Gewissen.
Das schlechte Gewissen, war mir zur zweiten Natur geworden. Ich hatte es auch, wenn ich mir keiner Schuld bewusst war. Mit eingezogenem Nacken lief ich immer herum, gewärtig, dass von irgendwo her mich ein Schlag treffen könnte.
In den schwierigen Jahren am Gymnasium in Wesel hatte ich ständig Nachhilfestunden bei einem Studienrat Mieting. Als Gegenleistung belieferten meine Eltern ihn mit frischen Eiern. Hochintelligent, sah er in mir einen hoffnungslosen Fall. Dem entsprechend war dann auch seine Nachhilfe und sie wurde von mir auch nicht als Hilfe angenommen. So kam es vor, dass ich die eine oder andere Stunde lieber spielend bei Mitschülern verbrachte und meine Eltern hinters Licht führte. Aber nie, ohne dass am nächsten Tag schon der Hüne als rächender Engel bei meinen Eltern auftauchte und mein Elend entdeckte. Die Pressionen von Elternhaus und Schule zwangen mich in die Lüge, wenn ich mir noch ein Restchen an kindlicher Freude bewahren wollte.
Erst in der Oberstufe des Gymnasiums lichtete sich für mich der Himmel. Ich fand einen Freund, einen Gärtner, der das Radio, das damals noch in seinen Anfängen steckte, sich zum Hobby gemacht hatte. Abend für Abend verbrachte ich nun meine Freizeit bei ihm. So, von „der Picke auf“ mit dem Radio vertraut gemacht und es bis zum Kurzwelleamateur gebracht zu haben, bin ich bis auf den heutigen Tag ein Freund dieses Mediums geblieben. Zugleich hatte mir mein Vater ein gebrauchtes Paddelboot gekauft, mit dem wir im Sommer an Wochenenden und Sonntagen auf der nahen Lippe unser Vergnügen hatten. Das Schwimmen hatte ich auch in diesem Nebenfluss des Rheins gelernt und beherrschte es vollkommen.
In den letzten drei Jahren am Gymnasium in Bocholt hatten wir einen Studienassessor zum Klassenlehrer. Warum er trotz seines Alters immer noch Studienassessor war, blieb uns unerfindlich. Er war keine Schönheit, klein und ein wenig beleibt, aber energisch und entschlossen aus seiner Klasse eine Musterklasse zu machen. Einen Vorzug hatte er für uns Buben: Er hatte eine schöne Frau, die nach unserem Dafürhalten gar nicht zu ihm passte. Er brachte zu Stande, was er sich zum Ziel gesetzt hatte. Meine Schwäche in Latein und Griechisch blieb bis ans Ende. Ich kam nie über eine 3 = genügend hinaus. Auch im Deutschen haperte es. Ich konnte keine Aufsätze schreiben. Bis unser Studienrat Hermes eines Tages auf den Gedanken kam, statt eines Aufsatzes einen Brief schreiben zu lassen. Ich traute meinen Ohren nicht, als er die Arbeiten zurückgab und vor der ganzen Klasse erklärte: Wilhelmy, Sie können ja Briefe schreiben! Dabei hatte ich mich so abgequält, das Geheimnis dieses Aufsatzschemas „Thema; Einleitung; 1.Teil; 2. Teil; und Schluss“ zu begreifen.
Dazu entdeckte dieser Lehrer, dass ich auch ohne Schwierigkeiten vor der Klasse einmal Gelesenes wiedererzählen konnte. So kam ich zu der Ehre bei einer Entlassungsfeier einer Abiturientia in der Wandelhalle der Schule Goethes „Prometheus“ vortragen zu dürfen. Schließlich hatte ich beim Abitur im April 1933 das beste Zeugnis, das ich je auf einem Gymnasium hatte. Die drei Jahre, die ich verloren zu haben schien, waren am Ende ein Gewinn für mein ganzes Leben, wie überhaupt  auch diese Schule in Bocholt, die mich Evangelischen eigentlich nie meine Konfession hat spüren lassen. Leider hatte ich des Krieges wegen nie Gelegenheit meine dankbare, liebende Verbundenheit mit ihr zu äußern, dass sie es hätte hören können.
 
Auf dem Abiturzeugnis steht: „Wilhelmy will Theologie studieren“. Wie kam es dazu? Meine Eltern waren treue Kirchgänger, obwohl der Weg zu den städtischen Kirche eine halbe Stunde hin und eine halbe Stunde her in Anspruch nahm. Nach meiner Konfirmation 1926 wurde in unserem Außenbezirk am Lauerhaas eine neue Kirche gebaut. Ihr erster Pfarrer, Emil Tappenbeck, gewann mich für seine Jugendarbeit in Gestalt einer Gruppe des CVJM. Ich weiß nicht mehr, wie ich dazu kam. Wahrscheinlich mit dem Eintritt in die Oberstufe des Gymnasiums.
Dieser Emil Tappenbeck muss es gewesen sein, der mir nahe legte Theologie zu studieren und in Bethel damit anzufangen, denn mir fehlte das Hebraicum.
Mit dem großen Latinum und dem großen Graecum, war ich den meisten Studierenden an dieser Theologischen Schule gegenüber im Vorteil. Darum konnte ich das erste Semester so recht genüsslich mit dem Studium beginnen und musste erst im zweiten Semester die harte Kost der alttestamentlichen Ursprache erlernen. Die Abschlussprüfung fand dann an der Uni Münster statt.
Der Nationalsozialismus hatte auch in Bethel Einzug gehalten und die Theologische Schule nicht verschont. Es begann damit, dass die Studierenden in den Studentenheimen zu männlichen und weiblichen Wohnkameradschaften zusammengelegt wurden. Die Teilnahme an einem allgemeinen Wehrsport wurde uns Studenten zur Pflicht gemacht. Ganz allmählich tauchten dann auch schon SA und SS Uniformen auf und am Ende musste jeden Morgen vor dem Remter die männliche Studentenschaft in Gestalt von zwei Zügen angetreten sein und irgend einem Uniformierten 'Obermotz' Meldung machen. Es gab einige wenige, die sich davon fernhielten und die dann auch aus den Reihen der Angetretenen spontan unter brutalen Druck gesetzt wurden, ohne allerdings sich dadurch beeindrucken zu lassen. Die Theologische Schule litt sehr darunter, dass auch Professoren dem Druck auf Arisierung des Lehrkörpers weichen mussten.. Unter diesen Umständen entstand in Bethel auch unter den Studenten eine Gruppe „Deutscher Christen“ und folgerichtig ihr Gegenstück, die Anfänge der „Bekennenden Kirche“. Ich gehörte zu den Studenten, die anfänglich nichts Böses ahnten, aber auch keine Lust hatten in die SA oder die SS einzutreten. Wir meinten dem entkommen zu können, wenn wir dem „Jungstahlhelm“, der Jugendorganisation der „Deutschnationalen“ beiträten. Ausgediente feldgraue Uniformen aus der „Reichswehr“ wurden unsere Bekleidung. Ich trug statt der Stiefel Schnürschuhe und Gamaschen, bin auch nachher nie zu Stiefeln gekommen. Unsere Vorsicht aber war vergeblich, denn schon bald wurde der „Jungstahlhelm“ kurzer Hand beseitigt und der SA eingegliedert. So bin ich dann auch wohl am Ende meines Studiums in Bethel in ein Wehrsportlager der SA geschlittert, das in einer Jugendherberge in Oer- Erkenschwik in der Nähe von Recklinghausen stattfand.
Und weiter ging es auf dieser Bahn dann, als ich nach kurzem Aufenthalt im Elternhaus mit einem Transportzug voller Studenten zu einem Ost-Semester nach Königsberg fuhr. Der Zug machte zunächst Station in Marienburg und zu einem großen Empfang auf der Ordensburg durch den Gauleiter. Danach war dann die Ankunft in Königsberg enttäuschend. Kein Aufhebens von unserer Ankunft auf dem Bahnhof. Statt dessen mussten wir unsere schweren Koffer den weiten, sehr weiten Weg vom Hauptbahnhof Königsbergs zur Universität im Zentrum der Stadt schleppen, wo wir dann kurzer Hand einer Verbindung zugeteilt wurden . Auch hier waren die studentischen Verbindungen genötigt in ihren Häusern Wohnkameradschaften zu bilden. Ich gesellte mich zur „DCSV“ der "Deutschen christlichen Studenten Vereinigung", mit ihrem Wohnheim in der Gisebrecht Straße, gleich hinter der Universität.
Das Sommersemester 1934 in Königsberg - unter den damaligen Umständen - war unvergesslich schön. Obwohl es unter der Forderung stand: Politisches Studium geht vor Fachstudium. Die Partei, besser noch die SA, hat uns DCSVer kaum zu sehen bekommen. Nur ein vierzehntägiges Wehrsportlager in Ublick am See unterbrach diese schöne Freiheit. Der Kirchenkampf, in Ostpreußen so intensiv wie im Rheinland, sah uns DCSVer auf der Seite der Bekennenden Kirche. Schniewind und Ivand waren die herausragenden Professoren, die dafür einstanden und noch unbehindert ihre Vorlesungen halten konnten. Es verging kein Wochenende, an dem wir nicht an die See gefahren wären. Da lagen an der Küste die Badeorte wie an einer Kette aufgereiht vom nördlichsten Pilkoppen auf der Kurischen Nehrung , über Cranz, Neukuhren, Palmniken, bis Pillau und Zoppot. Vom Nordbahnhof aus  brachten die Züge die Königsberger und ihre Studenten an die Steilküste und ihre Strände, mit dem noch immer darin vorhandenen Bernstein oder auch in die Dünen der Nehrung mit ihren wunderbaren Sonnenuntergängen. Jetzt ist all das verloren, verspielt von einem Volk, das seine Verluste vom Vortag wieder hereinholen wollte. Das Herz weint
Im Juli 1934 zurück in den Westen, nach Bonn, wo Karl Barth noch las. Es waren seine letzten Vorlesungen, die er aber nicht mehr zu Ende führen konnte, weil es ihm verboten wurde. An den Bibelstunden, die er dann in seinem Hause für seine Studenten gehalten hat, habe ich noch teilgenommen. Mit dem Verlust dieses Professors hatte die Universität Bonn für viele Theologiestudenten das Anziehende verloren. Aber wo war es anders? Tübingen galt noch als intakte Universität. Der Landesbischof Wurm hatte sich mit seiner ganzen Person vor seine Landeskirche und ihre theologische Fakultät gestellt und es gelang ihm so die Kontroversen zwischen den Deutschen Christen und den Leuten der Bekennenden Kirche im Untergrund zu halten. Dadurch war eine innerkirchliche Auseinandersetzung vermieden und der kirchliche Frieden gewahrt.
Aber bevor ich nach Tübingen ging, meinte ich einer anderen Forderung genügen zu müssen: Es ging das Gerücht, nur der könne weiterstudieren, der zuvor ein halbes Jahr freiwilligen Arbeitsdienst abgeleistet habe. Leicht einzuschüchtern, wie ich nun einmal war, beugte ich mich der Forderung. Der Transport von Essen aus ging nach Ostfriesland in die Gegend von Leer. Remels war das nächst größere Dorf und unser Lager im Stapeler Moor, weit ab von jeglicher menschlichen Siedlung . Dort mussten wir Entwässerungsgräben bis zu einer Tiefe von 90 cm ausheben. Ich ergab mich dieser Aufgabe mit der mir anerzogenen Dienstwilligkeit. 14 Kubikmeter pro Tag war das Pensum. Da es sich um Torf handelte, war es nur an den nassen Stellen schwierig dies Pensum zu erfüllen. Das Lager bestand aus damals serienmäßig hergestellten Baracken . Die Lagerleitung lag in den Händen von Arbeitsdienst-Feldmeistern. Es waren offenbar lauter Leute, die diese Gelegenheit benutz hatten, einen neuen, besseren Arbeitsplatz zu finden, an dem sie das Sagen hatten. Moorsoldaten hieß man uns und so wurden wir auch wie Soldaten formiert und exerziert, nur mit dem Unterschied, dass wir statt des Gewehres einen Spaten in der Hand hatten und mit ihm unsere „Griffe kloppen“ mussten. Wir hatten nichts zu klagen, weil auch die Feldmeister das Ganze als einen Spaß verstanden, vor allen der bärbeißig erscheinende, etwa fünfzigjährige Schütte. Seine Stiefel waren nicht maßgeschneidert wie bei den anderen, sonder standen oben von den Waden ab. Auch seine Uniform war ein wenig schäbig. Unter der Mütze ein wettergegerbtes Gesicht und Schalk in den Augen. Es machte ihm Vergnügen uns hinters Licht zu führen. So fragte er zu Beginn am Samstag , als wir anfänglich zum Revierreinigen angetreten waren: Wer die Kartoffelsorten auseinander kenne, oder wer schon mal mit Gold gearbeitet habe? So suchte er seine Leute für die Reinigung der Latrinen.
Wegen meines guten Spatengriffs gehörte ich schließlich auch noch zu den Erwählten, die an dem Parteitag in Nürnberg teilnehmen durften. Der Höhepunkt unsres Aufmarsches war dann der Augenblick, in dem das entsprechende Kommando gegeben wurde, das bei den Soldaten hieß „Präsentiert das Gewehr!“ Tausende, spiegelblank polierte Spatenflächen zeigten aus der Sicht der Tribüne einen Augenblick statt der Schmalseiten ihre Breitseiten. Im Vorbereitungslager zu diesem Parteitag hatte mich einer dieser Arbeitsdienst-Offiziere auf der Schreibstube gefragt, ob in meinen Himmel auch die Neger und die Juden kämen. Ich hatte mit einem schlichten "ja" geantwortet. Dann wolle er in diesen Himmel nicht hinein, antwortete er. Dazu meinte er, in drei Jahren wäre ich kein Theologe mehr oder der Bart wäre restlos ab. Dabei machte er die Handbewegung des Halsabschneidens.
Am 22.Nov. 1935 immatrikulierte ich in Tübingen. Ein Stempel mit dem Wortlaut: „Arische Abstammung urkundlich geprüft. Universität Tübingen“, findet sich noch im meinem Studienbuch.. An der Universität lasen zu der Zeit mit großem Zulauf die Professoren Heim, Fetzer und Kittel. Der alte Schlatter predigte dann und wann neben ihnen in der Stiftskirche. Im Schlatterhaus hatte die DCSV ihr Zentrum und zugleich einen Mittagstisch eingerichtet. Ich traf hier wieder mit einem königsberger Kommilitonen zusammen, namens Wilhelm Hertenstein, einem derben Schwarzwälder. Durch ihn wurde ich in einen Kreis Studierender gezogen, die sich bei der Mesnerin der Stiftskirche, einem Frl. Fetzer, zu einem privaten Mittagstisch einfanden .Sie hatte das elterliche Haus geerbt, das in der Klinikumsgasse lag und bewohnte das Obergeschoss. Eine überdachte Brücke führte vom Kirchplatz über die Klinikumsgasse hinweg direkt in dies Obergeschoss. Mittelalterliche Kleinstadt mit ihrem engen Beieinander von Häusern und Wohnungen war hier noch gut erhalten. Mein Freund hatte gleich nach seiner Ankunft in Tübingen bei dieser Lies Fetzer ein Zimmer gefunden. Ich konnte erst im zweiten Tübinger Semester bei ihr einziehen. Die Freundschaft mit diesem Wilhelm erbrachte im Juli 1936 eine gemeinsame 14 tägige Radtour über Ulm, Augsburg, München, Königsee mit Watzmann-Besteigung, dann weiter über Töltz Kochelsee u. Walchensee nach Garmisch-Partenkirchen mit Alpspitz-Aufstieg, über Oberammergau nach Kempten zum Bodensee und zur Reichenau. Der Heimweg führte uns über Kloster Beuren durchs Bäratal nach Tübingen zurück. Wichtiger als diese unvergessliche Fahrt war eine andere gleichzeitig sich herausbildende Freundschaft mit einer Freundin dieser Elisabeth Fetzer. Es war eine Nachbarin , eine Geschäftsfrau, die das Wäsche- und Aussteuergeschäft „Pfleiderer“ in der Neckargasse für ihre Familie leitete. Helene hieß sie mit Vornamen. Im Kreis der anderen Teilnehmer an diesem Mittagstisch, ergaben sich Wanderungen und Spaziergänge zur Wurmlinger Kapelle und zur Lichtenberger Höhe in unterschiedlicher Zusammensetzung. Allmählich bildete sich dabei zwischen diesem Fräulein Pfleiderer und mir ein engeres, vertrauteres Verhältnis, so dass wir auch des öfteren zu zweit Ausflüge in die Umgebung Tübingens unternahmen und uns schließlich an Silvester 1936 verlobten.
Unter den Studenten der Universität hatten sich Gruppen meist landsmannschaftlichter Prägung gebildet, die sich zur „Bekennenden Kirche“ zählten und die Intaktheit der Württembergischen Landes-Kirche samt ihrer Universität nicht akzeptieren konnten. Führend war unter ihnen die der rheinischen Kirche. Sie fanden in der „Sozietät“ Unterstützung, einer Vereinigung württembergischer Pfarrer mit Namen wie Hermann Diem, Paul Schemp, Goes, Vörster u.a.m. Hermann Diem kam eigenst nach Tübingen, um unserem Kreis Vorlesungen in der Praktischen Theologie zu halten als Gegenüber zu der Fetzers und Fabers an der Universität. Im Schlatterhaus sprachen auf unsere Einladung hin Karl Immer aus Wuppertal, Gollwitzer und Fischer. Der Saal war jedes Mal brechend voll. So groß war das Interesse der Studentenschaft. Diese Mitarbeit veranlasste mich dann auch mein letztes Semester an der Theologischen Schule in Barmen zu belegen. Es war gedacht als Vorbereitung auf mein 1. Examen, das ich bei der Rheinischen B.K. abzulegen gedachte und nicht beim Rheinischen Kosistorium in Düsseldorf, das ganz in den Händen der Nationalsozialisten war. Es wurde ein turbulentes Semester, weil die Gestapo es zu verhindern suchte. Es begann mit den Vorlesungen der Ortspfarrer mit professoralen Fähigkeiten, darunter dem Pfr. der reformierten Gemeinde Elberfeld de Querwain, dem Pfr. Obendieck aus Barmen so wie den Professoren der Schule: Peter Brunner und H. Schlier in der Barmer Christus Kirche. Als wir dann aus der Kirche ins Gemeindehaus wechselten, griff die Gestapo zu und verbot das Ganze. Von da an wechselten wir von Woche zu Woche den Vorlesungsort. Die Pfarrer nahmen uns in ihre unterschiedlichen Gemeindezentren auf. Mit den Professoren reisten wir in das Neandertal . Dort hatten die Adventisten ein Schulungszentrum, das sie aber nicht nutzen konnten, weil auch sie verboten waren. Sie stellten es uns zur Verfügung. Drei Mal vollzogen wir diesen Wechsel. Dann hatte die Gestapo uns auch da entdeckt und machte dem ein Ende. Der Rest des Semester ging ich dann an die Theologische Schule in Bethel. Ich war zu der Zeit ein wenig kränklich und ersuchte um die Erlaubnis mein Semester bei voller Anerkennung in Barmen abbrechen zu dürfen.
Vom ersten Teil meines Examens, dem schriftlichen, ist mir nichts mehr erinnerlich Das mündliche um so mehr. Es fand unter strengster Geheimhaltung in einem Geschäftshaus in Düsseldorf statt. Dieses hatte drei Eingänge, durch die im Abstand von fünf Minuten immer nur einer der Beteiligten das Haus betreten durfte, um bei der Gestapo keinen Verdacht darüber aufkommen zu lassen , dass sich hier im Laufe des Tages eine komplette theologische Prüfung abspielen sollte. Die Leitung hatte Präses Humburg, der bei irgend einer Gelegenheit im Laufe dieses Tages zum Gaudium seiner Zuhörer ein Gedicht auf Adolf Hitler zum Besten gab, das er noch zu einer Zeit verfasst hatte, als auch er diesem Wahn verfallen gewesen. Mich nahmen die Historiker in der Kirchengeschichte aufs Korn, weil ich aus Wesel kam. Was Wesel gemeinsam habe mit Straßburg und Magdeburg, war die Frage. Nach einigem hin und her erarbeiteten wir das Flüchtlingsproblem. „Wesalia hospitalis“. Aber dann die Frage: Was der .Posaunenengel auf den Kirchturmsspitzen der evangelischen Kirchen Wesels zu bedeuten habe? Ich fiel aus allen Wolken, denn ich hatte nie einen solchen gesehen. Dem wurde stattgegeben. Es sei das Zeichen der „Kirche unter dem Wort“ gewesen und auf einigen Kirchen des Niederrheins noch heute vorhanden.
Das Ergebnis dieser Prüfung wurde dann am Abend in der Wohnung eines Rechtsanwaltes bekanntgegeben. Ich hatte einen „Schwanz“ gemacht Bei der schriftlichen Klausur fehlte mir jegliches Wissen über die Missionierung der Germanen durch die iroschottischen Mönche. Die zweijährige Vikariatszeit verbrachte ich je zur Hälfte im saarländischen Schwallbach und im wetzlarschen Oberbiel.
 
Ich muss hier einmal eine Pause machen, denn die Fülle der Erinnerungen, die nun vor mir liegt, lässt mich zunächst einmal daran zweifeln, ob ich der Aufgabe gewachsen bin in der bisherigen Dichte meine Erinnerungen fortzusetzen. Abschließend sei aber noch vermerkt: Am 19. Februar 1940 erst konnten wir heiraten, noch während meines 2. theologischen Examens und zu Kriegsbeginn.
 
In Wesel und Umgebung waren nächtens schon englische Bomben gefallen. Ihr Ziel war offenbar die Zerstörung von Gleisanlagen. Wir, Helene und ich, waren mit den Rädern zu den Einschlagstellen gefahren, um uns ein Bild von der Zerstörung zu machen. Es waren wohl nur Bömbchen gewesen, die uns einschüchtern sollten. Zu Tode war niemand gekommen Nur Türen und Fenster in der Umgebung waren in weitem Umkreis zerstört. Luftkämpfe hoch über der Stadt waren hin und wieder zu hören . Von einem wurde ich Zeuge, als ich bei einem Besuch auf dem Fusternberg, einer Vorstadt von Wesel, ein Jagdflugzeug ca. 100 Meter von mir entfernt senkrecht in den Boden einschlagen sah. Zuvor hatten wir, in der nähe Kartoffeln erntende Bauern und ich, in der Luft Maschinengewehrfeuer gehört. Dann sahen wir, wie eine dieser Maschinen offensichtlich führungslos vom Himmel auf uns zu sauste und mit einem Knall im Boden eines naheliegenden Gartens verschwand. Wir hatten uns alle zu Boden geworfen, das Schlimmste befürchtend. Aber es geschah nichts als das knatternde Explodieren, der noch in den Trümmern vorhandenen scharfen Munition. Unsere Phantasie malte sich das Schlimmste aus über das Schicksal des Piloten. Keiner dachte daran sich dieser Katastrophe zu nähern. Alle machten, dass sie davon kamen. Erst später erfuhren wir, dass es eine deutsche Messerschmidt getroffen hatte, der Pilot aber  dank seines Fallschirms lebend davon gekommen war.
Im Frühjahr 1940 nach meiner Heirat und nach meinem bestandenen 2 Examen wurde ich von der B.K. als Hilfsprediger der Notgemeinde Wesel zugewiesen. Notgemeinden nannten sich die Zusammenschlüsse der Gemeindeglieder, die sich gezwungen sahen, sich von dem Groß der kirchlich Neutralen und deutschchristlichen Pfarrer, Presbyterien und Gemeinden zu trennen und unter einem eigenen „Bruderrat“ in kleinen Kreisen zusammen zu kommen und so eine Gemeinde zu bilden. Da zu gesellten sich einige Soldaten der verschiedensten Einheiten, die hier bereits für den Einsatz gegen Holland, Belgien und Frankreich zusammengezogen waren. Am Morgen des ? sahen wir hoch oben, über unserem Hause Tausende von deutschen Kampfflugzeugen in Richtung Holland fliegen und wir wussten, was das zu sagen hatte. Meine Hilfspredigerzeit dauerte nicht länger als einen Monat, den Monat Mai 1940. Im Juni wurde ich eingezogen. Die Einberufung bestimmte mich für die Beobachtungs-Ersatz-Abteilung in Königsberg Ponarth. Ich wusste nicht, was da auf mich zu kam, als ich am 1.Juni 1940 am Abend, es war schon dunkel, auf dem Bahnhof in Wesel stand und schwer bedrückt Abschied nahm von meiner jungen Frau und meinen Eltern. So kam ich wieder nach Königsberg.
Eine Beobachtungsabteilung gehört in der Kriegsmaschinerie zur Artillerie. Drei Batterien machten eine Abteilung: Die erste - ihren Namen weiß ich nicht mehr - hatte zur Aufgabe die Witterungsverhältnisse zu ermitteln. Ich gehörte zur „Lichtmessbatterie“. Die dritte war die „Schallmessbatterie“. Ihre Aufgaben waren es feindliche Feuerstellungen so oder so auszumachen. Während meiner Grundausbildung hatte ich des öfteren Gelegenheit in den Kirchengemeinden der Umgebung Königbergs zu predigen. Zahlreiche Pfarrer Ostpreußens waren eingezogen. An der Universität gab es noch einen Studentenpfarrer, Manfred Koschorke, mir aus meiner Studienzeit bekannt und Mitglied der B.K. Der organisierte die Vertretungen landauf und landab mit solchen in Königsberg angeschwemmten Pfarrersoldaten. Ich war zu der Zeit noch nicht ordiniert, in Wesel fand sich dazu in der Kürze der Zeit keine Gelegenheit mehr. Darum betrieb ich jetzt meine Ordination. Im Auftrag des Bruderrates der B.K. des Rheinlandes wurde ich dann vom Bruderrat der B.K. Ostpreußens in der Kirche am Löbenicht am 4. Oktober 1941 vom Pfr. Lic. Leidreiter ordiniert, assistiert von Pfr. Link, dem Ortspfarrer, und Emil Hollweg, einem rheinischen Pfarrer, der zufällig mir gleich als Soldat in Königsberg war und der B.K. angehörte. Im Laufe der Zeit predigte ich in Schaken, Schönbruck, Schippenbeil, Friedland und Gr. Heidekrug bei Königsberg.
Am 17. Juni 1941 war uns in Tübingen unser Joachim geboren . Das brachte mir einen Urlaub ein, der seine Fortsetzung fand als wir mit dem Kind nach Königsberg fuhren und dort immer nur nach Dienstschluss und bis zum Zapfenstreich in einem Privathaus einige Wochen beisammen sein konnten. Wenig später wurde unsere Einheit nach Prag verlegt.
Wir bezogen Quartier in einer Schule im Stadtteil Device. Dieses Geschenk , - für mich war es das! - sollte fast ein ganzes Jahr währen. Ich habe die Kulturschätze dieser Stadt ins Herz geschlossen und bis heute bewahrt. Jede freie Gelegenheit habe ich wahrgenommen, um Neues zu entdecken und Bekanntes noch genauer mir einzuprägen. Zu Weihnachten besuchte mich meine Frau für einige Stunden. Mehr war ja nicht drin. Meine Unterkunft und ihr kleines, erbärmliches, verwanztes Zimmer eines tschechischen Polizisten lagen weit aus einander. So konnten wir immer nur für kurze Zeit beisammen sein. Im Laufe des Jahres 1942 wurde die Einheit wieder nach Königsberg zurückverlegt und zum Fronteinsatz vorbereitet.
Um Stalingrad tobte damals der Kampf und wir sollten nach Rostoff zur Verstärkung der deutschen Einheiten. Anfang Dezember, es war schon Abend als unser Transport mit allem unserer Einheit dienlichem Material bestens ausgerüstet die Verladerampe in Königsberg verließ. Die Mannschaftswaggons waren zum Teil doppelbödig belegt und der Kälte wegen reichlich mit Stroh gepolstert und zusätzlich mit einem Kanonenofen beheizt. Umstände, die vielen von uns Landsern noch in der Nacht zum Verhängnis werden sollten. Der Morgen graute als wenige Kilometer hinter Byalistok bei Wolkowisk, eine Sprengladung der Partisanen unseren Zug entgleisen ließ. Die Lok und die ersten Waggons sprangen aus den Schienen darunter auch einige oben erwähnte Mannschaftswagen, deren Kanonenöfen natürlich umkippten und das Stroh in Brand setzten. 20 Landser fielen dieser Katastrophe zum Opfer. Ich lag in dem ersten Waggon, der noch mit allen Rädern auf den Schienen stand, dank unseres bleischweren Vordermanns, der unsere gesamte Ausrüstung enthielt und den Stoß auffing, so dass nur seine Vorderräder von den Schienen kam. Die Panik war in der Gegend der umgestürzten Waggons entsetzlich. Ich bekam davon wenig zu sehen, denn wir waren auf der Seite des Zuges ausgestiegen, auf der sich das eigentliche Drama nicht abspielte. Der Rest unseres Transportes wurde nach Byalistok zurückgezogen und dort innerhalb von drei Tagen mit dem Notwendigsten wieder ausgerüstet und dann in den Mittelabschnitt der Front in Richtung Moskau wieder auf die Reise geschickt. Dort wurde eine intakte Beobachtungsabteilung aus der ruhigen Front herausgezogen und an unserer Stelle in Richtung Stalingrad in Marsch gesetzt. Nach diesem Vorgeschmack vom Krieg war unsere Weiterreise über Smolensk nach Jelna in die Stellung der dort abgezogenen Beobachtungsabteilung nervenzerstörend gruselig. Unsere Lok schob zwar vor sich her ein oder zwei leere Tafelwagen, aber die Partisanen waren überall und wir waren uns keinen Augenblick mehr sicher. Ein Gefühl, das manch einer von uns, der noch nicht in Feindesland gewesen war, des Schlafs beraubte. Wir kamen unversehrt in Jelna an und erlebten hier den 24. Dezember 1942. Unvergesslich, die erste Begegnung mit russischen Städten und Dörfern. Schon in Smolensk war alles so ganz anders als bei uns. Die Fassaden der Häuser hatten in unseren Augen etwas schäbig Liebloses, schnell Erstelltes und dann befriedigt dabei Belassenes. Ich konnte nur einen kurzen Blick auf die berühmte Kathedrale werfen. In Jelna aber lagerten wir unser ganzes Material vorübergehend in der Kirche der Stadt. Als Wache habe ich in ihr die Schmach gesehen, die ihr angetan war. Zum Kartoffellager war sie verkommen. Unsere vorläufigen Quartiere nahmen wir in den Häusern der Nachbardörfer. Schneebedeckte Holzhütten, im Innern unterschiedlich. Ich habe saubere Räume gesehen in denen das einzige Bett, das darin stand und nur für die Matka bestimmt war, jedem Auge gefallen konnte. Ich habe aber mehr andere Häuser betreten, in die einzutreten ein Schwall widerliche Gerüche mich hinderte Da lagen die Menschen auf dem aus Ziegeln gemauerten großen Backofen, dem Herzstück des Hauses und schliefen dort. Einmal am Morgen aufgeheizt zum Kochen oder Backen der Nahrung, musste er die Wärme für den Rest des Tages und der Nacht speichern und liefern. Ein kleiner Blechofen für ein paar Holzscheite konnte zur Not für den Abend nachhelfen. Wie mancher Einquartierte, der sich mit solch einem Haus alleingelassen sah und meinte, den Backofen den ganzen Tag heizen zu müssen, fand sich am Abend unter freiem Himmel mit diesem Backofen alleingelassen, denn das Haus war abgebrannt. Ich sollte hernach noch mehr Erfahrungen mit diesen Blockhäusern machen. Vorerst wurden wir von Jelna aus in die verlassene Stellung der an unserer Statt nach Stalingrad geschickten Einheit gebracht, einer in einem Wäldchen gelegenen Bunkersiedlung. Aus Birkenstämmen errichtete Erdhütten, halb unterirdisch, halb oberirdisch und mit Erde überhäuft, sollten Schutz gegen feindlichen Beschuss bieten. Je nach Bedarf für 2, 3 oder auch 4 Mann war Raum darin. Bei einem Volltreffer wäre den Bewohnern eine Beerdigung erspart geblieben. Ich, der Schreibstubenbulle, wohnte in einem dieser Bunker zusammen mit unserem Rechnungsführer, dem Musiker unserer Batterie. Er spielte Akkordeon und war wohl auch von Beruf Akkordeonsolist. In der Innentasche seiner Feldbluse hatte er von Anfang an einen Flachmann, der ihn, so lange als wir beisammen waren, begleitete und ihm den Krieg erträglich machen musste. An diesem E.W. fanden wir die ersten Läuse. Er klagte tagelang über einen unerträglichen Juckreiz um seine Lenden. Wenn es ihn packte, dann fasste er seine Feldbluse vorne und hinten und rieb sich fast wund um den Bauch herum. Er war der Meinung, er habe ein Ekzem. Als wir dann der Sache auf den Grund gingen und uns sein grünes Unterhemd einmal genauer ansahen, fanden sich diese Schmarotzer. Die anderen "Partisanen" (oder Parasiten?) sollten wir dann erst später kennen lernen, die Flöhe und die Wanzen. Die Front des Krieges war hier ruhig, so dass wir bis dahin noch keinen Gewehrschuss, viel weniger Kanonendonner gehört hatten. So fand ich mich forsch genug, eines Tages auf Skiern selber die Post zu den Messstellen in der vordersten Linie zu bringen. Ich hatte noch nie auf solchen Dingern gestanden und weil es sich ja nur um einen Langlauf auf ebenem Gelände handelte, nahm ich das Unternehmen auf die leichte Schulter. Erst im nachhinein wurde mir klar, dass ich streckenweise in Feindsicht mich bewegte und einmal sogar von einem hochfliegenden russischen Aufklärungsflugzeug beschossen wurde, das mich bei der klaren Sich auf sonnenbeschienenem Schnee leicht ausgemacht hatte. Ich hörte nur das Maschinengewehr.
Dies ruhige und friedvolle Eingewöhnen in den Krieg dauerte nicht lange. Dann verlegte man uns an das Südende des Wolchows, nahe seinem Einfluss in den Ilmensee. Jenseits lag das auch als Hansestadt berühmte Nowgorod, diesseits unser Frontbahnhof, der natürlich im Bereich der russischen Artillerie ständig mit Störfeuer rechnen musste. Aber nichts geschah und wir konnten unbehelligt ausladen und einige Kilometer weiter nördlich an der Rollbahn in Nekoschowo unsere Quartiere beziehen und unsere Bunker bauen. Während Nowgorod völlig zerschossen war, fanden wir hier ein fast unversehrtes Dorf vor, so dass die meisten von unserer Einheit in den vorhandenen Häusern ihr Unterkommen fanden. Warum wir, die Schreibstube, und unser Batteriechef am Ende in Bunkern außerhalb des Dorfes unterkrochen, weiß ich nicht mehr. Hier waren wir dem Krieg näher gerückt.
Nacht für Nacht blubberte über uns ein russisches Leichtflugzeug hinweg und warf Bömbchen und Bomben ab, je nach dem, ob es uns nur den Schlaf rauben oder auch die Rollbahn zerstören wollte.
Bei einer Beerdigung eines gefallenen Kameraden unserer Einheit wurde ich als gelernter Pfarrer aufgefordert die Beerdigung zu halten, Die Einheit war an der Grabstätte versammelt, als ein russischer Flieger uns bemerkt haben musste und nun alles, was er an Bord hatte, auf uns ablud. Es war Winter und des Frostes wegen bereits Gräber ausgehoben, in die wir zum Schutz gegen etwaige Splitterbomben springen konnten. Als der Spuk vorbei war und wir uns gefasst hatten, fand es sich, dass niemandem etwas geschehen war. Ich sprach nur noch ein „Vater Unser“. Dann machten wir uns aus dem Staube. Eine der Bomben war offenbar so aufgeschlagen, dass der Zünder unbetätigt geblieben war. Sie lag friedlich zwischen den Gräbern auf dem Boden. Andere hatten ein nahe liegendes Haus getroffen und zerstört. Ob Tote darin zu beklagen waren, habe ich nie erfahren, denn ein Großangriff der Russen auf breiter Front setze mit diesem Angriff ein und vertrieb uns aus Nekoschowo. An Weihnachten hatte man mich aufgefordert für unsere Einheit eine Christvesper zu halten. Es stand schon damals nicht gut um uns. So sagte ich, ein kleiner Gefreiter, es sei darum so dunkel bei uns, weil „wir uns selber den Himmel mit Brettern vernagelt hätten“. Alle wussten, auch die Offiziere, dass ich kein Nazi war und wohl auch als Pfarrer nicht sein konnte. Man murrte und dacht wohl auch manchmal daran mich los zu werden. Da ich aber meinen Dienst ordentlich machte und keinerlei zersetzenden Einfluss auf meine Kameraden ausübte, ertrug man mich. Der Durchbruch des Russen am Wolchow brachte die ganze Front oberhalb des Ilmensees ins Wanken. Hals über Kopf räumte unsere Einheit das Dorf in Richtung Luga. und überließ es der Infanterie und ihren Panzerabwehrgeschützen. Unterwegs auf steinhart gefrorenen Knüppeldämmen passierten wir ein Verpflegungslager, dem Zugriff freigegeben. Ich sehe noch heute einen Landser vor mir, einen Arm voller Schnapsflaschen an seinen Bauch drückend. Ein anderer fragt ihn, warum er sich mit dem billigen Zeugs belaste, es gäbe doch etwas Besseres. Kurzer Hand öffnet der Erstere seine Arme und lässt fallen, was sie halten und sucht auch das Bessere. Einer unserer Lastwagen hatte uns aufgesammelt. An einem Strick zogen wir einen Akja, eine aus Sperrholz gefertigte Schlittenschale hinter uns her, in ihm lagen alle unsere Schätze. In Luga erst fanden wir uns wieder zusammen, wurden dort in eine Zug verladen, der uns nach  Pleskau bringen sollte. In einem dieser Waggons habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Dose Schokakola geöffnet, gegessen und ihre wohltuende Wirkung verspürt. In Pleskau sammelte sich das Heer der versprengten Einheiten der Wolchow-Front. Das wussten auch die Russen und nahmen es sich für die Nacht zum Ziel. Wir waren in einem mehrstöckigen Lagergebäude des Militärs für diese erste Nacht untergekommen. Nie wieder habe ich solche Angst gehabt als in dieser Nacht, in der die russischen Bomben uns das Fürchten lehrten. In den Pausen, in denen wir kurz den Schutz unseres Gebäudes verließen, sahen wir an den Bränden, was die Bomben angerichtet hatten. Wir waren verschont geblieben. Aber unsere Offiziere sorgten dafür, dass wir keine weitere Nacht in der Stadt blieben. Saprigino Ataki hieß das Dorf, in das wir uns retteten oder wurden wir dahin beordert? Der Vormarsch der Russen war zum Stehen gekommen und wir richteten uns wieder in den von Russen geräumten Häusern ein und unsere Messstellen streckten wieder ihre Fühler an vorderster Stelle in Feindesland vor. Aus diesen wenigen Wochen ist mir ein Ereignis schmerzlich bis heute in Erinnerung geblieben. Es lag tiefer Schnee und ich hatte mit einem anderen Kameraden zusammen die letzte Wache, als wir nahe bei unseren Unterkünften eine uralte Frau im Schnee sitzen sahen. Sie hatte wohl die Räumung der Front nicht mitgemacht oder war vergessen worden. Jedenfalls hatte sie sich bis zu uns geschleppt und sich hier in der Nähe von Menschen erschöpft im Schnee niedergelassen. Unsere Batterie hatte vom Wolchow zwei Russinnen mitgenommen als zusätzliche Hilfen für unsere Küche. Katja, die ältere, und Wallt, ihre jüngere Schwester. Letztere auch als Liebchen für alle Fälle. Sie hatten immer eine eigene, höchst sauber gehaltene Unterkunft Als wir dann die alte Frau fanden, weckten wir zunächst diese beiden Mädchen, in der Hoffnung, bei ihnen Hilfsbereitschaft zu finden. Wir fanden sie auch und sie nahmen sie zu sich und sorgten sich um sie. Als dann aber die Batterie zum Morgenappell antrat, entlud sich über mich von Seiten des Hauptwachmeisters ein Donnerwetter bis hin zur Strafandrohung dafür, dass ich die alte Frau - es wurden hässlichere Ausdrücke gebraucht - in die saubere Unterkunft dieser beiden Russinnen gebracht hatte. Dann wurde sie auf die Straße gejagt und ihrem Schicksal überlassen. Während ich hilflos dabei stand und zusehen musste, wie sie ihr kleines Bündel auf einen Stein legte und blindlings auf nimmer Wiedersehen ins Dorf schlich. Dabei wäre es ein Kleines gewesen sie auf einen Schlitten zu setzen und mit einem Panjepferdchen einige Kilometer weiter im Hinterland zu den Angehörigen zu bringen..
Nachdem die Front erst ins Rutschen gekommen war, ließ der Russe nicht mehr nach und unseres Bleibens war auch hier ein Ende gesetzt. Als alles beisammen war und unsere Fahrzeuge gepackt, nutzen wir eine Pause in den Luftangriffen das Dorf zu verlassen und auf der Rollbahn weiter nach Westen zu kommen. Wir überquerten eine Brücke und hatten das andere Ufer schon erreicht, als hochfliegende russische Bomber mit ihren Bomben dies Ziel zu treffen versuchten und trafen. Die Panik war entsetzlich. Jeder, der noch heil davon gekommen war, suchte zunächst das Weite, um weiteren Bomben zu entgehen. Ich fand mich irgendwo auf der Straße wieder und schloss mich denen an, die Richtung Westen ihre Zuflucht nahmen. Ich hatte zuvor in einem dieser eigentümlichen Fahrzeuge gesessen, die keine Motorhaube zu haben schienen, sondern nur eine schräg auf die Windschutzscheibe zu laufende Abdeckung. Unter meinen Füßen lagen Pickhacken, Spaten und andere Gerätschaften. Als ich später den Wagen wieder zu Gesicht bekam, sah ich, dass unter meinen Füßen ein Bombensplitter sein zerstörerisches Werk getrieben hatte, ohne dass ich etwas davon bemerkt hatte. Von den Gerätschaften war nichts mehr heil. Am grausamsten waren solche Attacken immer für die Pferde, die darin verwickelt waren. Ich sollte das später noch einmal erleben. Mit dem Treck der Davongekommenen zog ich weiter, in der Hoffnung auch Teile unserer Einheit wieder zu finden. So geschah es dann auch. Am Abend fanden wir uns in einem Dorf wieder zusammen. Ein Oberleutnant Nora, ein Ostpreuße, war so schwer verletzt worden, dass er noch im Verbandszelt verstarb. Damit war unsere Verwendung im Norden beendet. Wir wurden wieder verladen und unser Transport rollte über Witebsk und Polen in den Süden. Stationen an unserem Wege, die ich mir merken konnte, waren Dublin und Tschermissel, Lemberg (Lwov), Endstation war Slozow in der heutigen Ukraine, damals noch Polen. Die Front hatte sich zwischen Tarnopol und Brodi beruhigt, sodass wir zunächst wieder an Ruhe kamen. Während die Küche mit Hauptwachtmeister und Batteriechef in einem vereinzelten und verlassenem Bauernhaus untergebracht wurde, weiß ich nicht mehr, warum ich mir etwas tiefer im Walde einen eigenen Schreibstubenbunker baute. Holz war genug vorhanden und meine Leute waren damit einverstanden. Damals war ein Oberleutnant Göhre unser Batteriechef. Er hatte die unteren Dienstgrade durchlaufen und war - ohne, die sonst erforderliche Vorbildung - Offizier geworden. Er war nicht mein Freund. Aber bei ihm gilt für mich: „de mortuis nihil nisi bene“. Er schickte mich zu den Messstellen nur wegen eines einzigen vergessenen Briefes. Bei dem Bau meines Bunkers stieß ich auf Reste aus der Zeit des ersten Weltkrieges. Die Scherben österreichischer Bierflaschen kamen zu Tage. Irgendwo hatte ich schon am Wolchow mir eine einfache Krankentrage beschafft. Zwei starke Holme mit je zwei Füßen für den Abstand vom Boden und dazwischen eine starke Segeltuch Bespannung. Das war mein Bett geworden, etwas schmal aber eben mein eigen. Seither schlafe ich auch noch heute im Bett auf schmalstem Raum. Zu dieser Liege hatte mir meine Frau in Tübingen einen Schlafsack gefertigt, aus Stoffresten und mit Daunen gefüllt. Den konnte ich in einem Jägerrucksack verstauen. Meine Einheit war t-mot d.h. teilmotorisiert. Meine Batterie hatte nur einige LKWs, auf denen das technische Material transportiert wurde, für den Tross hatten wir Pferdegespanne. Auf diesen konnte ich auch meine Liege immer mitnehmen. Aber meinen Waldbunker habe ich nur einige Tage nach seiner Fertigstellung nutzen können. Dann brach der Russe zwischen Tarnopol und Brode durch und seine Panzerspitzen zwangen uns wieder das Weite zu suchen. Die Batterie hatte irgendwo eine Kuh aufgegabelt, die unsere Köche irgendwo und wann schlachten wollten, nun aber nicht mehr dazu kamen. Man drückte sie mir in die Hand. Ich solle sie gemächlich mit ins Hinterland bringen, während die Batterie sich schleunigst davon machte. Der Russe war in einem Seitental vorgestoßen, so dass zwischen mir und seinen Spitzen ein Bergrücken westwärts verlief. Auf dem Weg am Fuße dieses Bergrückens versuchten wir beide, meine Kuh und ich davon zu komme. Von Zeit zu Zeit schlugen Granaten, die als Störfeuer für diesen Weg gedacht waren rechts von uns ein. Manche plumpsten nur in den Morast und detonierten nicht, andere zwangen mich zu Boden. Aber meine Kuh hielt ich fest am Strick. Das arme Tier war ja so froh, dass es mich bei sich hatte. So gelangten wir nach einigen Kilometern in ein Waldstück, in dem sich meine Einheit versteckt hatte, ständig von den tieffliegenden russischen Bombern bedroht. Unser Oberleutnant saß auf einem Gaul sternhagelvoll. Bei Nacht und Nebel machten wir uns dann aus weiter westwärts, immer parallel zu den Panzern der Russen im Seitental. Am Nachmittag des folgenden Tages, die Straße auf der wir fuhren, ein Knüppeldamm, führte über offenes Land, erfasste uns wieder eine Staffel russischer „Schlächter“. Die Bomben trafen unsere Wagenkolonne furchtbar, besonders unsere Pferde, ich hatte mich seitlich in eine Splitterschutzmulde geworfen und blieb unverletzt. Aber die Pferde, sie mussten erschossen werden. Und ich mitten darin unversehrt hilflos. Ich hätte doch kein Tier erschießen können. Zwei Kameraden hatte es getroffen. Dem einen war ein Stück seiner Bauchdecke weggerissen worden, dem anderen saß ein dicker Splitter im Oberschenkel. Beide dachten ans Schlimmste. Als das hinter uns lag, war unsere Einsatzbereitschaft zerstört und wir kamen ins Hinterland des San, in die Nähe von Neu Sandez an den Fuß der Beskiden, der Hohen Tatra. Hieß der polnische Erholungsort Pivnitzna? Wir, von der Schreibstube, bewohnten das Atelier des Malers Radnicki, eines Expressionisten.. Für die Nazis unter uns eine Herausforderung, da „entartete Kunst“. Der Maler und seine Familie waren im Haus, seine Frau offenbar schwer krank und schmerzmittelbedürftig. Ich armer Tor suchte bei Gelegenheit eine polnische Apotheke in Neu Sandez auf, um für sie Schmerzmittel zu erstehen. Das sei verboten, war die Auskunft, die ich erhielt. Selbst das Mitleid war ermordet. Ich fand andere Mittel, die Familie merken zu lassen , dass es auch noch Menschen unter uns gab. Der Zeitvertreib für unsere Einheit fand sich in der Suche nach Partisanen in den Bergen oder nach Waffen, die alliierte Flugzeuge über diesem Gebiet abwarfen. Wir durchwanderten die schöne Bergwelt, aber fanden nichts. Hier war es gut, hier hätten wir bis ans Ende des Krieges bleiben mögen. Aber der Russe rückte weiter vor und wir mussten wider weiter westlich eine neue Auffangstellung beziehen. Hinter Reichshof, nahe Tarnopol, bezog unsere Batterie in Pilzno, einer kleinen polnischen Ortschaft, mit ihrem Tross Quartier, während die Messstellen weiter vorne ihre Positionen bezogen. Es war Sommer und Erntezeit. Die Polen waren aus der bis zu 4 km weiten besetzten Frontzone abgezogen und hatten ihre Ernte auf den Feldern stehen lassen müssen. So kamen täglich zu mir auf die Schreibstube Bauern, die ihre Ernte noch hereinholen wollten und von unserem Batteriechef die Erlaubnis brauchten. Dazu musste ich Bescheinigungen ausstellen und sie unterschreiben lassen. Des öfteren brachten sie eine Flasche ihres Schnapses mit, „Samagonka“ hieß er im Unterschied zum russischen „Wodka“. Da ich selber nichts trank, blieb er bei den Kameraden, meist bei unserem oben erwähnten Rechnungsführer. Die Offiziere hatten Besseres. An der Front war es still und so trieb der Krieg hier auf unserer Seite seine giftigsten Blüten. Der Alkohol brachte mir fast Abend für Abend einen Rechnungsführer in die Unterkunft, der von mir wie ein Kind behandelt werden musste. Mit seinem Akkordeon war er natürlich immer bei Mannschaften und Offizieren beliebt. Er war schließlich so vergiftet, dass er auch nur noch wenig Alkohol vertrug. Eines nachts hatten sie ihn kurz beim Kragen genommen und förmlich durch den aufgeweichten Straßendreck gezogen und ihn mir auf seinen Strohsack gelegt. Die Brille zerbrochen, die Hose durchnässt, habe ich ihn erst einmal schlafen lassen. Ich mag nicht von den Alkohol-Exzessen erzählen, deren Gipfel ich darin sehe, dass der neue Kommandeur der Abteilung, ein Schwabe, bei unserem Chef zu Gast, auf dem Höhepunkt des Gelages mich aufforderte auf sein Wohl einen Schnaps zu trinken, nachdem er gehört hatte, dass ich keinen Alkohol tränke. Ich weigerte mich und er hatte wohl auch noch so viel Selbstbeherrschung, dass er mich nicht dazu zwang , sondern nur sagte, ob ich meine ohne Alkohol den Krieg gewinnen zu können. Man hatte mich mitten in der Nacht telefonisch geweckt und aufgefordert eine Erklärung auf der Schreibmaschine zu schreiben und in die Offiziersunterkunft zu bringen. In ihr solle der Stabsarzt, der dabei war, seine Bereitschaft erklären, im Wege der Ferntrauung irgend eine Frau, deren Namen ich nicht mehr weiß, zu heiraten. Die Absicht war klar: eine Schnapsidee.
Angesichts der zur Zeit die Gemüter erregenden Wehrmachtsausstellung vermag ich nicht, ein weiteres, beschämendes Kapitel hinzu zu fügen. Auch hier: „De mortuis nihil nisi bene“. Weihnachten stand wieder einmal vor der Tür. Ich hatte 13 Monate keinen Urlaub gehabt und ihn beantragt, um in Wesel bei meinen Eltern nach dem Rechten zu sehen. Die Stadt war ja von den Alliierten völlig zerstört worden. Ich sollte wieder eine Weihnachtsansprache bei der Weihnachtsfeier meiner Batterie halten. Oberleutnant Göre verlange vorher mein Manuskript. Als er es gelesen hatte, übernahm er selber diese Ansprache und schickte mich in Urlaub. Am 23.12.44 wanderte ich zu Fuß zum Abteilungsgefechtsstand einige Kilometer landeinwärts. Der Urlaubschein wurde mir von einem Leutnant Fork grollend ausgehändigt. Man kannte mich und wusste um meine innere Resistenz. Auf der Straße fand sich ein Wagen, pferdebespannt, der mich mit zu nehmen bereit war. So kutschierte ich im schönsten Sonnenschein und leichtem Schneefall auf Nimmer-Wiedersehen von meiner Einheit, wie sich später herausstellen sollte, in den so lang entbehrten Urlaub. Vom Pferdewagen wechselte ich bei seiner Einheit in den Beiwagen eines Krads, das zufällig nach Tarnow fahren musste und bereit war mich mit zu nehmen. Es lief alles wie geschmiert. Es wurde Nacht, ehe ich mit einem Zug von Tarnow nach Krakau fahren konnte. So war ich Heiligabend in der Stadt der Tuchhallen und der „schwarzen Madonna“ des Veit Stoß. Von alle dem habe ich aber nichts zu sehen bekommen, denn der Urlauberzug ging noch in der Nacht ab in Richtung Heimat. Ich weiß nur noch, dass er über Dresden, durch Sachsen nach Stuttgart fuhr, immer gewärtig von feindlichen Fliegern angegriffen zu werden. Am ersten Feiertag hielt ich meine Lieben wieder einmal in den Armen. 14 ganze Tage waren uns geschenkt. Anfang Januar bombardierten die Alliierten den Reutlinger Bahnhof und warfen das, was sie dort nicht los geworden waren auf Tübingen. Gemeint war wohl der Bahnhof und die Gleisanlagen, aber sie trafen den Neckar und ein Haus in der Gartenstraße, in der wir wohnten, aber zur Zeit des Angriffs mit vielen anderen in einem natürlichen Stollen geborgen waren. Den hatten verwundete Soldaten in ihrer Lazarettzeit mit Hilfe der Anlieger in den Österberg gegraben. Das dumpfe Detonieren der Bomben gelang deutlich an unser Ohr. Meine Frau hatte sich und unsere beiden Buben für die vielen nächtlichen Fliegeralarme entsprechend ausgerüstet. Sie sahen in ihren Mäntelchen, Kapuzen und Rucksäcken wie Heinzelmännchen aus.
Ich hatte gehofft, dass diese Bombennacht mit ihren zerstörten Bahnstrecken meinen Urlaub verlängern würde. Es war nicht so. Ich musste noch einmal an die Front. Die aber hatte sich in diesen Tagen sehr verändert. Dem Russen war der Durchbruch in den Weichselbogen gelungen und stand in Schlesien nun schon auf deutschem Boden. Unser Zug endete in Oderberg. Hier herrschte ein heilloses Durcheinander. Man sammelte die vielen Landser, deren Einheiten ihren Standort gewechselt hatten und noch nicht wieder auszumachen waren in sogen. Marscheinheiten. Aus allen Truppengattungen buntgemischt zusammengestellt, kannte einer den anderen nicht. Man versprach uns zunächst einmal in Ruhe die Entwicklung abwarten zu wollen, bis unsere Einheit sich wieder gemeldet habe und wir zu ihr zurückkehren konnten. Dazu verlagerte man uns in Schulen der näheren Umgebung Oderbergs. Aber kaum, dass wir dort angekommen waren, wurden wir einem Marschbataillon eingegliedert und zum Fronteinsatz bei Beuthen bestimmt. Wir bezogen Stellungen weit vor der Stadt und wurden bei einigen vorstädtischen Häusern, nahe einem hohen Bahndamm postiert. Treffpunkt eine bunkerähnliche Unterkunft am Fuße dieses Bahndamms. Ich zog als Posten bei diesen Häusern auf. Es wurde schon dunkel. Zwischen den Häusern hindurch hatte ich ein wenig Sicht auf ein dahinter liegendes Waldgelände. Zwischen den Bäumen konnte ich noch eine in einem weißen Tarnmantel gehüllte Gestalt ausmachen. Ich schoss, obwohl auf diese Entfernung kaum mit einem Treffer zu rechnen war. Dann aber, den Feind so nahe wissend, wollte ich mit meinen Leuten am Bahndamm Fühlung aufnehmen. Aber es war keiner mehr da und weit und breit kein Soldat und nur noch die geängsteten Menschen in den Häusern, von denen ich auch keinen zu Gesicht bekam. Rings um mich her Krieg, es blitzte von Leuchtkugeln, ich hörte Gewehr- und Maschinengewehrfeuer. Ich folgte einfach der Straße, an denen diese Häuser lagen und gelangte so zur Hauptstraße. Dort meldete ich mich bei einem Infanteriegefechtsstand. Die warfen mich raus. Ich solle machen, dass ich wieder nach vorne käme. Ich zog es vor mich der Straße nach Beuten anzuvertrauen. Von Zeit zu Zeit belegte der Russe diese mit vereinzeltem Störfeuer und ich war gezwungen im Straßengraben in Deckung zu gehen. Aber so kam ich in die Stadt zu großen Gebäuden, 4 bis 5 stöckigen Wohnkomplexen, wie sie Siedlungsgenossenschaften nach dem ersten Weltkrieg gebaut hatten. Die Bewohner hockten alle in den Kellern und nahmen mich unbesehen auf, wahrscheinlich war ich nicht der einzige Landser unter ihnen, denn das Störfeuer des Russen traf auch dieses Haus. Dann liefen die Leute nach oben um zu sehen, wen es getroffen hatte. Ich fand eine Mauernische in der ich sitzend mit angezogenen Beinen Halt fand und schlafen konnte, ohne jemandem im Wege zu sein. Über mir die Masse dieses Häuserkomplexes als Schutz.
Am Morgen, als ich diesen Unterschlupf verließ, fand ich auf der Spaße ein Pferdefuhrwerk, an dem sich Landser der verschiedensten Truppengattungen schweigend festhielten. Das Ganze sah so aus, als ob hier ein regulärer Transport von irgendwelcher militärischer Notwendigkeit durchgeführt wurde. Ich schloss mich dem an und hielt mich auch an dem Wagen fest, der nun stracks durch Beuten hindurch und auf der anderen Seite wieder hinaus wollte. Aber da standen „Kettenhunde“ - so hieß die gefürchtet Militärpolizei. Die sammelten die Versprengten - so hießen wir, wenn wir unseren Truppenteil verloren hatten - wieder ein.
Man wies uns den Weg zur nächsten Versprengten-Sammlungsstelle. Aber auf halbem Wege, sobald wir außer Sicht der „Kettenhunde“ waren., verließen einige die Straße, darunter auch ich und zogen querfeldein in Richtung Bismarckhütte. Ich weiß nur noch den Namen. War es ein Stadtteil, war es nur eine Siedlung? Jedenfalls die Einwohner waren noch da und ich ging in ein Haus, in dem eine Frau, bebend vor Angst vor den Russen, froh war einen Landser sprechen zu können, während der Treck aus Flüchtenden auf Lastwagen und sich absetzenden Fahrzeugen der Panzerdivision vor ihrem Fenster vorbeizog. Als der Treck zum Stehen kam, nahm ich die Gelegenheit wahr, auf die Lafette eines 8 cm Flakgeschützes aufzuspringen und unbeanstandet bis Ples mitzufahren. Dort machte ich mich wieder selbständig und fand einen Treck unterschiedlicher Fahrzeuge, darunter einen Bulldog, der einem LKW angehängt war und schlingernd mitgezogen wurde, noch dazu von einem völlig betrunkenen Unteroffizier am Lenkrad. Kaum kam das Ganze zum Stehen, machte ich mich wieder davon und stapfte in dem Schnee an dem Treck vorbei zu einem der vereinzelten Häuser an dieser Straße. Es war schon belegt von lauter Versprengten. Aber ich fand noch ein Schlafplatz zwischen ihnen. Am Morgen gesellten sich zwei Polizisten von der deutschen zivilen Polizei in Polen zu mir. Sie fuhren einen leeren Mannschaftstransporter der Polizei gen Westen, um ihn und sich mit ihm vor dem Zugriff der Russen zu retten. Zu dritt im Führerhaus kamen wir ganz schön voran. Bis wir von Angehörigen der 20. Panzerdivision aufgehalten wurden und zunächst einmal als Versprengte kassiert und zu den zahlreichen anderen gebracht wurden. Unsere Soldbücher wurden eingezogen, dann wurden wir in Baracken untergebracht, bis über unser Schicksal entschieden werde. Wo das vor sich ging, habe ich nie erfahren. War es schon auf deutschem Boden, war es noch in Polen? Nach 14 Tagen bezog die Division neue Stellungen bei Ratibor und nahm uns zunächst mit. Offenbar hatte sie keine Weisung, sodass sie sich gezwungen sah uns einfach der Division einzugliedern. Da ich Spezialkenntnisse auf dem Gebiet der Artillerie besaß, bekam ich einen Marschbefehl zu einer ihrer motorisierten Feldhaubitzenbatterien. Ich meldete mich bei einem Gefechtsstand als zugewiesener Artillerist. Aber der Oberleutnant, dem ich in die Arme lief, sagte kurzerhand, Artilleristen brauchten sie nicht. Ich solle mich so schnell als möglich als Panzergrenadier im vorderen Gefechtsstand melden. Mit meiner Überweisung zur Artillerie in der Tasche, versuchte ich zunächst einmal die dort angegebene Schreibstube der Artillerie zu finden. Ich fand sie und wurde herzlich aufgenommen. Noch in der gleichen Nacht brachte man mich in ein Schloss zu den Offizieren dieser Artillerieabteilung. Sie waren gerade versammelt und nahmen mich genau unter die Lupe. Ein Pfarrer war ihnen noch nicht untergekommen. Auf ihre Frage: Was ich bei ihnen wolle, sagte ich ihnen rundheraus. Ich sei zu allem bereit, wenn ich nur wieder in eine Einheit aufgenommen wäre. Einer der Offiziere schenkte mir eine in Leder gebundene Taschenbibel aus dem Bücherschrank der Schlossbesitzer. Man sah offenbar das Schicksal dieses Schlosses voraus. Dann wurde ich einem Kameraden zugesellt, der sich mit der Theorie des Schießens mit Geschützen auf motorisierten Lafetten zu befassen hatte .Von solchen hatte die Batterie nur noch eins. So hatten wir keine notwendige Aufgabe und lebten im Schloss mit anderen Einheiten zusammen auch von den Dingen, die seine Einwohner Hals über Kopf verlassen hatten. Darunter war viel Eingemachtes. Weiter ging's von da nach Neiße, wo unsere Panzerkräfte bei Groß Grotkau den Vormarsch des Russen zum Stehen gebracht hatten. Und weiter ging es in den Zopthen, der nahen Sommerfrische für die Kaufleute aus Breslau. Hier hatten sie ihre Reserven untergebracht, ihre Reserven an Nahrung und Kleidung. Viele hatten schon alles im Stich gelassen. Vereinzelte kamen noch einmal zurück, um zu bergen, was noch zu bergen war. Bei uns Landsern ging der Spruch um: “Soll das alles in die Hände der Russen fallen?“ Wir bedienten uns nach Belieben. Wer etwas Passendes für sich fand, zog es an. Oberhemden unter der Feldbluse zu tragen war beliebt. Weiße Wäsche statt der grüngrauen des Heeres. Es kam vor, dass der eine oder andere Bewohner noch geblieben war. So hatte eine Frau in unserer Unterkunft nur einen Besuch gemacht bei Verwandten im Hinterland. Als sie zurückkam, war ihre Wohnung aufgebrochen und ihr Honigvorrat passé. Ein bekannter Kaufmann aus Breslau hatte sich einen großen Transportkoffer, der für den Transport von Anzügen bestimmt war, noch mit Vorhandenem gefüllt. Als er ihn abholen wollte, fehlte das Beste darin. Damals brachten wir deutschen Landser uns bei den Schlesiern in ein schlechtes Licht. Vom Zopthen konnten wir bei Nacht beobachten, wie Breslau bombardiert wurde. Dann ging auch Breslau verloren und unsere Division rückte wieder ein wenig nach Norden, in die Gegen von Otmachau, das muss in der Nähe eines großen Stausees liegen.
Wieder war es ein Gutshof, auf dem wir Quartier bezogen. Schweine, Hühner und Kühe waren noch da. Aber niemand, der sie versorgte. So nahmen die Unseren, was sie brauchten. Wir waren zu dritt mit unserer wenig benötigten Aufgabe, notfalls mit dem Kopf der Artillerie zu helfen. Das ewige Essen aus der Gulaschkanone brachte uns auf den Gedanken unsere Verpflegung zu verbessern. In der Nähe des Gutes war eine Zuckerfabrik und ein Sack Zucker im Bereich unserer Unterkunft, dazu alle Haushaltswaren und -Geräte, die ihre Besitzer fluchtartig im Stich gelassen hatten. Zum Mittag machten wir uns Reibepfannkuchen, immer drei in einer Kasserolle, für jeden einen. Wir nahmen sie aus dem Brattopf mit der Hand und tauchten sie in den Zuckersack, Ach war das ein Genuss! Das Rezept hatte ich im Kopf und es war wie einstens zu Hause. Einmal auf den Geschmack gekommen, beschlossen wir zum Abend zur Abwechselung Kartoffelpuffer zu backen und am nächsten Mittag "Flinsen". Im Grunde waren es nur verschiedene Namen für ein und dasselbe Gericht. Übrigens Schmalz fand sich reichlich im Haushalt. Zu der Zeit war ich überdies auch noch zum Burschen eines Leutnants avanciert. Der sich darüber wunderte, dass ich bei meiner Vorbildung nicht längst schon Offizier sei. Damals wurde alles, was an Mannschaftsdienstgraden nicht unbedingt benötigt wurde, zum Ersatzbataillon in die Tschechei geschickt. Dort sollten sie zum Nahkampf ausgebildet werden. Ich war der Einheit als Versprengter zugeflogen. Ich war entbehrlich. Also wurde ich zur Nahkampfschulung nach Königgrätz geschickt, oder besser in eine kleine Ortschaft bei Königgrätz. Mutterseelenallein verließ ich Klein-Mahlendorf mit allem, was ich hatte und reiste mit dem Zug über das Siebengebirge in die Tschechei. Ich hatte es nicht eilig. Es war Sommer und ich war weit von der Front entfernt und niemand kontrollierte mich. So ließ ich mir Zeit das Ersatzbatallion zu finden. Hieß der Ort „Schönbruck“? Ich wurde herzlich aufgenommen unter die zum Nahkampf bestimmten Todeskandidaten. Die Ausbildung geschah in der Hauptsache an geballten Ladungen. Das waren mehrere Stilhandgranaten zu einem Bündel zusammengebunden oder die Panzerfaust. Eines Tages wurde gefragt, ob einer dabei sei, der Karten zeichnen könne, Landkarten natürlich, Messtischblätter. Dazu war ich in meiner Beobachtungsabteilung ausgebildet worden. So meldete ich mich und man nahm mich. Die Aufgabe war alles andere als ein Messtischblatt zu zeichnen. Für die politische Schulung brauchte der Bataillonskommandeur eine große Karte des Großdeutschen Reiches. Die sollte ich auf die glatte Rückwand eines der dort vorhandenen Gebäude malen. 6 mal 3 m groß! An Hand eines Blattes aus einem Atlas machte ich mich an die Arbeit, zunächst die Grundfläche in weiß zu streichen, dann ein Linien-Netz, das mir die Einzelheiten leichter platzieren half. An Farben musste ich mich mit dem Behelfen, was gerade zur Hand war. Weiß machte keine Schwierigkeiten. Die Grenzen in rot. Dazu diente Mennige. Die Flüsse in Blau . Dafür fand sich ein haltbarer Lack, ebenso ein schwarzer für die Städte. Lauter Material, das die Zeit überdauern würde. Das Werk gelang und wenn es bis heute nicht übermalt wurde, müssten die Reste noch zu sehen sein. Anlässlich eines Besuches höchster Offiziere der Division wurde auch meine Arbeit vorgeführt. Beanstandet wurde, dass ich die Grenzen der Tschechei noch eingezeichnet hatte. Einer meinte, es fehle noch eine Stadt, die er gerne rot reingetragen sähe. Ich, als Theologe müsse das doch wissen. So kam auch noch Wittenberg dazu. Das muss so um den 5. Mai 1945 gewesen sein; denn wenige Tage später fingen wir an um unsere Ortschaft Deckungslöcher zu buddeln. Ich erhielt noch ein neues Gewehr mit Granataufsatz und einer schweren Kiste mit den dazu gehörigen Granaten. Aber dann erschienen Tschechen bei uns und riefen der Krieg sei aus, wir sollten unsere Waffen in einer Ecke unsres Saales niederlegen. Keiner von uns dachte daran, dieser Aufforderung nachzukommen. Dennoch kam der Befehl zum Aufbruch. Der aber lautete ganz anders: Auf nach Bautzen, wo unsere Division in schweren Kämpfen mit den Russen stand. Unser Ersatzbataillon marschierte und rollte in einem langen Treck gen Norden. Wir kamen nicht weit, als das Kommando: Zurück nach Königgrätz und alles Überflüssige auf einen Haufen werfen! den Zug stoppte. Wie gesagt so getan.
Ich nahm mir von diesem Haufen noch schnell eine bessere Feldbluse, ehe das ganze in Brand gesteckt wurde. Dann ging es zurück nach Königgrätz, immer noch bewaffnet und vorne und hinten mit Maschinengewehren abgesichert.
Es war Abend, als wir in der Stadt ankamen. Ein Ritterkreuzträger eröffnete uns, man könne uns nicht mehr geschlossen heim ins Reich führen. Jeder solle zusehen, wie er heimkäme. Ein LKW mit defektem Motor stand in der Nähe . Der wurde uns freigegeben mit seinem Inhalt. Unter anderem enthielt er Kisten mit frischen Eiern und Weinen. Auch ich griff zu und trank mehrere Eier leer und eine ganze Flasche Wein dazu . Das machte mich munter. Wir kletterten in den leeren LKW und ein Munitionspanzer wollte uns dann in die Freiheit schleppen.
Wir standen wie die Heringe im Innern des motorlosen Lasters. Selbst auf der Plane des Daches lagen die Landser. So kamen wir durch die Stadt. Aber kaum waren wir auf einer westwärts führenden Landstraße als uns unsere Zugmaschine in den Straßengraben fuhr. Der LKW kippte zum Glück nicht um, sondern lag nur ein wenig schräg auf der Seite, sodass wahrscheinlich niemand zu Schaden kam. Aber für die meisten von uns war nun so kein Weiterkommen mehr. Was auf dem Panzer Platz finden konnte, blieb auf ihm. Wir anderen standen da und mussten sehen wie wir weiterkamen. Zufällig stand der gesamte Tross der 17. Panzerdivision auf der rechten Straßenseite. Seine Führung suchte offenbar nach einem Ausweg aus diesem Chaos. In meiner Nähe war scheint's die Bäckerei der Division und hielt dort mit einem LKW und zwei luftbereiften Backöfen, die diesem angehängt waren. Auf gut Glück kletterte ich auf einen der beiden. Es dauerte nicht lange und die Fahrt ging los in die Nacht. Keiner der Mitfahrenden wusste wohin. Aber die Führung suchte offenbar einen Weg zu den Amerikaner südlich von Prag über Kolin, an Pilsen vorbei, Richtung Pisek. Als es Tag wurde überholten wir viele Kolonnen der aus Prag flüchtenden SS und anderer Wehrmachtteile. In Pisek gesellten sich zu uns die Fahrzeuge der Wlassow-Armee mit tschechischen Fahnen auf ihren leichten Panzern. So konnte es geschehen, dass wir von den Tschechen jubelnd empfangen und mit allerlei Wohlwollen bedacht wurden, weil sie uns für Wlassows hielten. Wir saßen da schon auf den Säcken des LKWs. Einen der beiden Backöfen hatten wir unterwegs abgehängt und seitlich im Graben abgestellt. So kamen wir zum Amerikaner. Wir wurden zunächst entwaffnet. Unsere Gewehre warfen sie einfach in die Wiese. Ich hatte noch eine Armbanduhr, aber der Ami interessierte sich mehr für mein Zielfernrohr, das zu meinem neuen Gewehr gehörte. Auf einer großen Ackerfläche bei Horaschdiowitz sammelte sich allmählich das Heer der Flüchtenden, weiträumig umgeben von einigen amerikanischen Wachen. Wer das Lager verlassen wollte, fand kaum ein Hindernis. Aber allmählich sprach sich herum, dass die Tschechen da draußen außerhalb des Lagers uns Deutschen kein Pardon gaben. Anfangs buk unsere Bäckerei noch etwas Brot für uns, dann waren wir auf die dünne Tomatensuppe des Lagers angewiesen. Ich hatte mir in Königgrätz außer den Eiern und dem Wein auch noch eine Stange gedörrtes Rindfleisch mitgenommen und hatte so noch ein wenig Zusatznahrung.
An den Donnerbalken zeigten sich bald die ersten Zeichen von Ruhr. Wir übernachteten im Freien, ich im Schutz meiner Zeltplane. Dann eine Schreckensmeldung: Die Amerikaner ziehen ab und überlassen das Lager den Tschechen. Über das riesige Lager von 2O -5O Tausend Menschen legte sich die dumpfe Stille der Angst. Aber es kam anders .Gegen Abend hörten wir aus der Ferne vom Westen her das Anrollen von Panzern. Es waren amerikanische, die die bisherige Wache ablösten. In der Nacht schliefen wir wieder ruhiger. Tags darauf suchte die Entlassungsstelle, die ständig dabei war das Lager aufzulösen einen , der fähig und bereit war im Entlassungszelt mit der Schreibmaschine die Entlassungspapiere auszustellen. Ich meldete mich für den nächsten Tag und wurde genommen. Zum Schluss dieses Tages bat ich, mich auch noch der kurzen Besichtigung stellen zu dürfen. Auch das gelang, so dass ich noch am gleichen Abend meine geringen Habseligkeiten aus dem Lager holen konnte und in das Lager derer einzog, die am nächsten Tag mit dem LKW nach Deutschland gebracht werden sollten. Hier tauschte ich meine Armbanduhr noch gegen eine Servelatwurst. Am anderen Morgen pfropfte man uns in einen amerikanischen Laster und ab ging's in Richtung Heimat über Schüttenhofen durchs Sudetenland, wo die Häuser mit roten Fahnen geschmückt waren und uns nichts Gutes für die Heimat verhießen. In Zwiesel waren wir wieder daheim, und die ersten Heimkehrer verließen den LKW. Passau, München, Augsburg, wir wurden immer weniger. Die Autobahn war so weit in Stand gesetzt, dass wir flott vorankamen . Ulm war Endstation, denn danach begann die französische Zone. Ich aber wollte nach Tübingen. Einem nach Reutlingen reisenden Kaufmann mit französischem Passierschein, gab ich einen Zettel mit, der dem dort lebenden Onkel meiner Frau meine Nähe ankündigen sollte. Sie hatte seit Monaten nichts mehr von mir gehört und machte sich natürlich die schlimmsten Gedanken. In Ulm riet man mir, so schnell wie möglich mir Zivilkleidung zu besorgen. Der Amerikaner sammele die Entlassenen wieder ein. Ich suchte den nächsten Pfarrer, schilderte ihm meine Lage und erhielt bei offensichtlichem Misstrauen einen blauen Anzug mit Hemd und Krawatte von ihm. So ausgestattet ging ich wieder zum völlig zerstörten Bahnhof und konnte mit einem amerikanischen Versorgungszug, der zwischen Ulm und Göppingen verkehrte, nach Göppingen gelangen, wo meine Frau Verwandte hatte, die eine Kartonagefabrik betrieben. Von hier besorgte ich mir im Rathaus einen neuen Personalausweis mit Foto. In dieser Beziehung waren die städtischen Ämter zu der Zeit großzügig. Ich wollte nicht immer meinen amerikanischen Entlassungsschein vorzeigen müssen, aus Angst, man könne ihn mir wieder abnehmen. Aber wie kam ich nach Tübingen, in die französische Zone.? In Groß-Heppach, im Remstal saß zu der Zeit Bischof Wurm und die württembergische Kirchenleitung. Zu Fuß über Schorndorf wanderte ich dahin und erbat mir einen französischen Passierschein der Kirchenleitung als Klinikenpfarrer zur Unterstützung von Prof. Bauernfeind, mit welchem mich ein gutes Verhältnis aus meiner Studienzeit verband und von dem ich wusste, dass er zu der Zeit die Seelsorge an den Kliniken in Tübingen leitete. So ausgestattet machte ich mich tags drauf wieder auf den Weg nach Göppingen und schon am nächsten Tag zog es mich in Richtung Tübingen. Dank der Empfehlung des Oberkirchenrates Pressel in Groß-Heppach konnte ich in der Gärtnerei Otto in Nürtingen übernachten. Aber dann wurde es gefährlich, galt es doch jetzt unbehelligt in die französische Besatzungszone zu kommen. Wo französische Posten standen, halfen Ortsansässige sie zu umgehen, so dass ich am späten Nachmittag des 26. Mai 1945 schon in der Gartenstraße ankam und meine Familie überraschte, die kurz zuvor vom Onkel Eugen Lachenmann aus Reutlingen eben jenes Lebenszeichen erhalten hatten, das ich in Ulm dem Kaufmann mitgegeben hatte. Uns war ein neues Leben geschenkt. Aber was nun? Ich war Pfarrer der rheinischen Kirche, Hilfsprediger der Kirchengemeinde Wesel. Man hatte mich 1943 nach einem Legalisierungsgespräch beim Konsistorium in Düsseldorf, zu dem ich eigenst von der Ostfront angereist war, legalisiert. Pfr. Obendieck begleitete mich seitens der B.K. Seither war ich ordentlicher Hilfsprediger der K.G. Wesel und meine Frau bezog erstmals die entsprechende Besoldung. Aber meine Landeskirche war für die damaligen Verhältnisse weit weg. So begann ich, wie geplant, zunächst als Hilfe für Herrn Prof. Bauernfeind in der Klinikenseelsorge an den zahlreichen Lazaretten in Tübingen. Dabei war ich stets bemüht mit meiner rheinischen Kirche Verbindung aufzunehmen. Mitten in Württemberg lag eine Enklave der Preußischen Union, das kleine Hohenzollern-Hechingen. Der Superintendent saß in Sigmaringen. Den suchte ich auf und stellte mich ihm zur Verfügung. Damals war dort gerade Not am Mann. Einer der Pfarrer dieser Enklave war bei der Beerdigung seines Kollegen am Grabe tot umgefallen. Die beiden Pfarrstellen Hechingen und Haigerloch waren frei, so dass er mich am liebsten auf der Stelle zu deren Pfarrer ernannt hätte. Wir wollten uns aber zuvor der Zustimmung der nächsten preußischen Kirche versichern. So fuhr ich per Anhalter, auf Kohlenzügen und in Bremshäuschen nach Düsseldorf, wo die Leitung der B.K. die Herren des Konsistoriums abgelöst hatten. Joh. Schlingensiepen war der Mann, dem ich das Schreiben des Superintendenten von Sigmaringen vorlegte.
Ich ahnte, was kommen würde. Er fragte mich, ob ich das verantworten könne, mich angesichts des Trümmerhaufens der Rheinischen Kirchen und Gemeinden und besonders dieses Wesels in die nahezu heile Welt Hechingens zurückziehen zu wollen? Damals konnte ich es nicht. So kehrte ich unverrichteter Sache, wieder auf abenteuerliche Weise nach Tübingen zurück.
Der schöne Traum eines einfachen Wohnungswechsels zwischen einer Pfarrwitwe, die nach Tübingen wollte und einem Pfarrer der eine vakante Pfarrstelle suchte, war aus geträumt. Von nun an betrieben wir unsere Rückkehr nach Wesel.
Bei meiner Rückkehr fand ich in Tübingen eine große Familie vor. Meine Frau hatte einige Kindergärtnerinnen des Kindergartenseminars zum Schutz vor den einrückenden französischen Truppen, bei sich aufgenommen. In der Nacht des Einmarsches wurden viele Frauen vergewaltigt. Dazu kam, dass das Kindermädchen eines in der Wohnung unter uns wohnenden SS-Führers schwanger war von einem verwundeten Soldaten, der das Weite gesucht hatte.
Ihre Eltern ließen sie auch im Stich. So wurde sie zu einem Familienmitglied. Im Spätsommer 1945 brachen wir auf mit 11 schweren Gepäckstücken, den beiden Kindern und uns drei Erwachsenen. Wir hatten eine Fahrgelegenheit gefunden, die uns und andere bis Ladenburg zu bringen versprach. Von dort war schon wieder ein Personenzugverkehr nach Frankfurt in Betrieb. Der endete aber nicht auf dem Hauptbahnhof, so dass wir einen der zahlreichen Handkarrenbesitzer bemühen mussten, die sich mit dem Transport des Gepäcks zum Hauptbahnhof ihre Geld verdienten. Dort sahen wir ein , dass es so nicht weiter gehen könne und wir gaben alle 11 schweren Gepäckstücke in der Gepäckannahme zum Weitertransport durch die Bahn auf. Natürlich mit der bangen Frage, was davon in Wesel ankommen würde? Auf dem Hauptbahnhof stand ein Personenzug nach Hagen in Westfalen bereit. Wir hatten unsere Karten dafür gelöst und versammelten uns vor der Sperre zum Einlass und standen ziemlich vorne an der Absperrung, nicht ahnend, wie gefährdet wir waren, denn allmählich sammelte sich hinter uns die Menge, die auch mit diesem Zug fahren wollte. Als dann die Sperre geöffnet wurde, drückte die Menge nach vorne und unsere Kinder konnten wir nur so retten, dass wir sie einfach über die Absperrung hoben und auf die andere Seite setzten und dann erst selber uns durch die Sperre begaben. Dann traf uns eine schwere Enttäuschung. Als wir in der Erwartung, einen leeren Zug vorzufinden, eine Abteil öffneten, war schon alles voll. Diese Menschen waren von hinten über die Gleise in den Zug eingestiegen und hatten die Sperre gar nicht passiert. Unser Protest beim Schaffner erreichte, dass er unser Abteil räumen ließ. Sie stiegen nach hinten aus. Während wir von vorne einstiegen und sich das große Abteil 4. Klasse füllte, warteten die da draußen, bis der Schaffner aus der Reichweite war und stiegen dann wieder von hinten dazu. So kamen wir bis Gießen. In Gießen stand ein Zug bereit, der diese Reisenden weiter bis Hagen bringen sollte. Der Zug wurde auch bis auf den letzten Platz gefüllt und wir hatten in einem 2. Klassen Abteil unser Weiterkommen gefunden, als das neue Zugpersonal gerade dieses als Dienstabteil auswählte. Es half kein Bitten. Wir mussten raus und standen hilflos auf dem Bahnhof, als der Zug abfuhr. Es war einfach kein Platz mehr für uns fünf Menschen. Traurige Augenblicke. Aber wir lebten und wollten weiter, ganz gleich wie. Auf einem anderen Geleise stand ein Güterzug mit leeren, aber offenen Waggons. Auch er sollte sobald als möglich in Richtung Hagen fahren. Kurzer Hand richteten wir uns auf ihm ein. Zum Schutz hatten wir noch eine Zeltplane bei uns, die uns und vor allem unsere Kinder vor der zugigen Nachtfahrt schützen sollte. Seither sind mir Altenhunden und Letmate unvergessliche Stationsnamen dieser Fahrt geblieben. Jetzt erst, bei näherem Zusehen, merke ich, welche krummen Wege der Zug nehmen musste, um nach Hagen zu kommen. Weite Teile der normalen Strecke waren offenbar noch zerstört. In der Nacht langten wir auf dem Hauptbahnhof an. Erst nach langen Umfragen erfuhren wir, dass von hier kein Weiterkommen ins Ruhrgebiet möglich war. Wir mussten zu Fuß zum Güterbahnhof Vorhalle. ca. 4 km entfernt. Unseren Uli trugen wir in einer Reisetasche. Dann ging es weiter mit einem Güterzug nach Küpferdreh. Erst von hier an durften wir uns in Personenzügen vortasten bis Friedrichsfeld, unmittelbar vor Wesel gelegen. Den Rest, bis zu meinem Elternhaus, noch einmal 4 km, mussten wir wieder zu Fuß machen. Der Bahnhof in Wesel war noch völlig zerstört, wie die ganze Stadt und die Brücke über die Lippe natürlich nicht ausgenommen. Das Elternhaus stand noch. Nur eine leichtere Granate hatte im Obergeschoss ein Loch in die Westwand gerissen, das aber von Rückkehrern oder Zurückgebliebenen geschlossen worden war. Meine Eltern hatten die Invasion der Engländer in Barnstorf überlebt und fanden nach ihrer Rückkehr ihr Haus von ausgebombten Weselanern belegt. Widerwillig hatte man ihnen 2 Räume im Erdgeschoss und einen Kellerraum zurückgegeben. Ein Teil des Inventars war geraubt worden. Nun kamen wir noch dazu. Die Freude des Wiedersehens dauerte nicht lange, dann machte sich Unmut breit.
Ich nahm sofort die Verbindung zur Kirchengemeinde auf und war auch einige Wochen als Hilfsprediger tätig mit der Aussicht, in Zukunft die Gemeinde Emmerich wieder aufbauen zu helfen. Es kam ganz anders. Ein Freund und Studienkamerad von mir, Peter Schumacher, sollte nach Leverkusen. Aus Gesundheitsgründen wollte er erst einmal in eine kleinere Gemeinde. Er besuchte mich und wir fuhren nach Wuppertal, um mit Schlingensiepen diesen Tausch zu vereinbaren. Dabei machten wir einen Besuch bei einem Pfr. Bückmann. Er war Peters Vikariatsleiter im Saargebiet gewesen. Während des Krieges war er als Prof. für Altes Testament an die Theologische Schule berufen worden. Wir fanden ihn nächtens bei der Arbeit an einer Predigt über den Jakobssegen. Er fragte uns um Rat. Aber wir wussten keinen. (Später als ich selber darüber predigen wollte, war mir klar, dass Jakobs Sicht der Zukunft seiner Söhne so deprimierend war, dass er mitten in seiner Vision aufschrie: „Herr, ich warte auf dein Heil!“)
Wir tauschten mit Zustimmung der Kirchenleitung. Zum 1.Dezember wurde ich als Pfarrverweser in die 3. Pfarrstelle der Kirchengemeinde Wiesdorf eingewiesen. Leverkusen war 1930 zur Stadt erklärt worden und vereinigte in sich mehrere Dörfer, darunter auch Wiesdorf als eine der beiden vorhandenen evangelische Kirchengemeinden des vereinigten Stadtgebietes. Der Inhaber dieser Pfarrstelle war vermisst und ich konnte erst nach Ablauf der Wartefrist 1948 ordentlich eingeführt werden. Die Einführung fand im Gemeindehaus statt. Durch eine Luftmine waren beide, Kirche und Gemeindehaus bis zur Unbrauchbarkeit beschädigt worden. Das Gemeindehaus war notdürftig wieder abgedeckt und erlaubte zwei Pfarrern und dem Hausmeister ein Unterkommen. Dann hatte ich nach meinem Dazukommen dafür gesorgt, dass ein Teil des Hauses als Gottesdienstraum verwendet werden konnte. In ihm fand meine Einführung statt. Mein Vater war zugegen. Er musste vorzeitig gehen, um seinen Zug nach Wesel zu erreichen. Ich sehe ihn noch heute, wie er im Bewusstsein mit seinem Sohn ein Ziel erreicht zu haben, dem er viel Kraft geopfert hatte, den Saal verließ.

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